Barely Something Sichuan 4851

AI WEIWEI

19.03.2010 – 20.09.2010

Das im Rahmen der Ausstellung gezeigte Video „Sichuan 4851“ können Sie auf Youtube ansehen.

Zur Ausstellung ist ein Booklet erschienen.

Ai Weiwei, Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Greg Wallis

Selbst Staub kann etwas erzählen

Jede Untersuchung des schrecklichen Erdbebens in Sichuan beginnt bei den Ruinen, die diese von der Natur und von Menschen gemachte Katastrophe hinterlassen hat. Wenn Architektur in Zukunft mehr mit Menschenwürde und Menschlichkeit zu tun haben soll, dann müssen wir lernen, die Spuren in den Ruinen richtig zu deuten. Dann werden wir auch erfahren, aus welchen Gründen die Architektur, die wir für sicher hielten und die uns vor den Unbilden der Natur schützen sollte, schließlich innerhalb von Sekunden zur Auslöschung so vieler Menschenleben geführt hat.

Als Architekt stelle ich eine Frage immer wieder: Warum sind diese Menschen tot? Das ist eine ganz einfache Frage. Viele aber wollen sie nicht beantworten, sie wollen die Wahrheit vertuschen, weil sie beschämt sind, weil Architektur, in diesem Sinne, zu einer politischen Frage wird. Deshalb erklärt auch niemand den Menschen im Land, warum so viele Schulkinder bei dieser Naturkatastrophe sterben mussten. Das hat zu tun mit der Gesellschaft, in der wir leben und die sich Volksrepublik nennt und deren Organe vor allem danach trachten, die Wahrheit vor dem Volk zu verbergen.

Deshalb arbeite ich seit über einem Jahr mit Hunderten von Freiwilligen daran, Fakten, Daten und Beweismaterial zusammenzutragen und zu sichern. Wir ermittelten zum Beispiel die Namen von über 5000 Schulkindern, die beim Erdbeben erschlagen wurden, ihr Alter und das Geburtsdatum, den Ort, wo sie starben und aufgrund welcher Baumängel ihre Schule einstürzte. Wir machten Interviews mit ihren Eltern. Schnell wurde klar: Es ist ein schlimmer, schlimmer Fehler, dass diese Gebäude einfach nur schnell hochgezogen wurden, ohne irgendwelche Bauvorschriften und Sicherheitsrichtlinien zu beachten. Aber natürlich will dafür niemand die Verantwortung übernehmen, erst recht kein Politiker. Es heißt allerseits und allerorten: “Wir haben nichts falsch gemacht, das Erdbeben ist schuld.“ Aber die Heuchler wissen es besser, denn die Gebäude nebenan sind nicht eingestürzt, sie sind manchmal sogar älter und in einem ungepflegten baulichen Zustand, aber eingestürzt sind nur die Schulgebäude, und dabei kamen viele tausend Kinder zu Tode. Noch einmal: Warum mussten diese Menschen sterben? Die Wahrheit ist einfach und direkt. Sie ist schockierend einfach, trotzdem wird in der chinesischen Architekturwelt versucht, die Wahrheit zu vertuschen und über die Verantwortung von Architekten gar nicht erst zu reden. Die Regierung erklärt, in den von staatlichen Architekten errichteten Gebäuden würden 2500 Menschen vermisst. Hinweise auf Fehlverhalten der Baubeamten gäbe es nicht. Das ist eine Lüge, und es ist eine große Schande für alle chinesischen Architekten, dass niemand aufsteht und seine Stimme erhebt, um zu protestieren. Die Freiwilligen, die uns bei der Recherche nach Einsturzursachen unterstützen, müssen nachts – tagsüber sind die Gelände von der Polizei umstellt – hinter die Absperrungen kriechen, um Materialproben und andere Beweise zu sichern. Wir sind immer noch mit der Spurensuche beschäftigt. 2010 werden wir einen ausführlichen Bericht mit unseren Untersuchungsergebnissen vorlegen. Die Planungsund Genehmigungsbehörden scheren sich nicht um Aufklärung, im Gegenteil, sie lassen die Modelle der eingestürzten Bauten verschwinden und fertigen neue Entwurfszeichnungen der Schulen an. Um Planungsfehler zu verschleiern, schaffen ihre Handlanger sogar Schutt von anderen Baustellen heran und mischen ihn unter die Trümmer. Das ist zwar verrückt, aber so wird deutlich, warum die Ruinen ein Politikum sind. Selbst Staub kann etwas erzählen.

Regierung und Partei nutzen die Katastrophe, um eine noch stärkere Zentralisierung von Macht und Kontrolle durchzusetzen, ihr Informationsmonopol hilft ihnen dabei. Die Gelegenheit scheint günstig, die Bevölkerung und die Geldströme in die gewünschte Richtung zu lenken und die Gesellschaft immer stärker unter Einfluss zu bringen. Das haben sie immer im Sinn. Deswegen sind ihnen Nachbarschaftlichkeit, Geschichte und die Lebensweise der Menschen egal. Es ist eine Tragödie: Wir leben in einer totalitären Gesellschaft, die nur funktioniert, wenn die Menschenrechte des Einzelnen beiseite geschoben werden. Schlimmer noch: Das Erdbeben gibt den Mächtigen die Gelegenheit an die Hand, viele Bürgerrechte in ihrem Sinne willkürlich neu zu definieren: das Recht auf freie Rede, das Recht, umzuziehen, das Recht, am Ort zu bleiben und viele andere. Doch diesmal könnte es sein, dass der Staat bei der Gängelung seiner Bürger den Bogen überspannt hat. Der Erdbebenkatastrophe könnte eine Schlüsselrolle zukommen. Viele tausend Bürger, meist arme, einfache Arbeiter und Bauern, verweigern sich den organisierten Staatstrauerfeierlichkeiten, wollen nicht mehr anonym bleiben hinter der Fahne und den Losungen des Staates, sondern fordern das Recht auf ganz persönliche Trauer als Eltern ihrer Kinder. Denn diese Arbeiter und Bauern haben ihre Kinder geliebt, haben sie zur Schule geschickt und dafür alle nur denkbaren Opfer gebracht. Ihre Kinder sind ihre Hoffnung, sollen möglichst später in der Stadt auf die Universität gehen, ein besseres Leben führen. Die Regierung hat in China eine strenge Ein-Kind-Politik angeordnet. Für viele Familien bedeutet der Tod des Kindes auch das Ende ihrer Träume, ihrer Hoffnung und den Verlust ihrer Zukunft.

Aber persönliche Gefühle interessieren die Regierung nicht. Eine Mutter erzählte mir, dass sie einen Tag nach dem Tod ihrer Tochter die Mitteilung bekam, ihr würde mit Beginn des nächsten Monats die Zulage von 5 Yuan gestrichen, die sie erhalten hatte, weil sie die Ein-Kind-Politik befolgt hatte. Das Kind sei tot, die Zulage stünde ihr nicht mehr zu. Das ist unmenschlich und grausam. Diese Mutter erklärte mir aber auch, sie wolle gar kein Geld von der Regierung, erwarte jedoch, dass ihrer Tochter angemessen gedacht würde. “Schließlich hat sie sieben Jahre glücklich auf dieser Welt gelebt.“

Die Regierung sieht das anders. Sie baut Vorzeigeprojekte, sie rühmt sich, erfolgreich Menschen gerettet zu haben. Die gleichgeschalteten Medien berichten peinlich ausführlich darüber, welche politischen Führer die Hilfsmaßnahmen vor Ort geleitet haben und dergleichen. Viele Funktionäre sind verdorben, sie können gar nicht anders denken. Ein deutscher Präsident hat 1985 einmal gesagt, dass der Wert einer Gesellschaft sich darin erweise, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Wir in China sind davon leider weit entfernt. Bei uns dürfen die Schwachen, die Menschen, die weit unten stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie, nicht einmal danach fragen, warum die Schulen eingestürzt sind, unter deren Trümmer ihre Kinder begraben wurden. Wenn sie es dennoch tun, werden sie abgehört oder sogar verhaftet. Ich besitze zahlreiche Dokumente mit inoffiziellen Anweisungen, wie mit denen zu verfahren ist, die immer noch kritische Fragen stellen. Sie werden eingeschüchtert, beschattet, verprügelt, verhaftet. Man unterzieht sie einer Gehirnwäsche und droht ihnen damit, dass sie nie wieder eine neue Arbeit oder eine neue Wohnung finden. Und das nur, weil sie fragen, warum Gebäude eingestürzt sind…

Regierung und Partei haben überhaupt kein Interesse daran, dass im Land der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit oder Selbstorganisation Raum greift, vom Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe oder vom Traum wirklicher Basisdemokratie ganz zu schweigen. Dafür müssten die Mächtigen zuerst einmal den Mut aufbringen, das Recht auf Bildung, Emanzipation und Selbstbestimmtheit für alle durchzusetzen. Vorerst macht man es sich leicht und speist die Eltern, die beim Erdbeben ein Kind verloren haben, mit einer Entschädigung von 60.000 Yuan (6000 Euro) ab. Nachfragen oder Proteste werden ignoriert oder brüsk zurückgewiesen: “Euer Problem, ihr wurdet bereits bezahlt.“

Im Internetzeitalter lassen sich Informationen und Meinungen schneller verbreiten denn je zuvor. Doch mit einer Politik nach dem Prinzip von Zensur und Unterdrückung von Meinungsfreiheit werden Partei und Regierung scheitern. Das Internet trifft den Nerv der Regierung. Mauern definieren, wo der eigene Herrschaftsbereich endet. Wir kennen aus unserer Geschichte die Große Mauer, nun sollen wir die Große Firewall bekommen. Die Machthaber versuchen, den freien Strom der Informationen einzudämmen, die Menschen am unabhängigen Denken und am freien Ausdruck ihrer Meinung zu hindern.

Doch wir wollen, dass diese Gesellschaft ziviler wird. Die Große Firewall soll das verhindern, sie ist der letzte Grenzwall. Wenn wir diesen niederlegen, werden wir eine freie Gesellschaft aufbauen können. Deswegen haben die Genossen so große Angst. Sie schalten täglich viele, viele Miniblogs ab, meinen Blog natürlich auch, sie schalten sie immer wieder ab, sie bedrohen und verhaften aktive Blogger. In China herrscht ein erbarmungsloser sozialistischer Kapitalismus, der freie Meinungsäußerung nicht kennen will und jede Veröffentlichung zensiert, in der jemand wagt, mehr Demokratie zu fordern. Aber die Spitzen von Partei und Regierung sind sehr nervös geworden. Sie fürchten, dass die Freiheit der Internetnutzung die Ursache für die nächste Revolution in der Volksrepublik China werden könnte. Und um es klar zu sagen: Früher oder später wird eine Revolution kommen.

Ai Weiwei