Paisaje Ausentado
13.07.2012 – 28.01.2013
Zur Ausstellung ist ein Booklet mit einem Text von Stefanie Hessler und Fotografien von Werner J. Hannappel erschienen.
Paisaje Ausentado“ [Abwesende Landschaft]
Im Museum DKM wurde 2012 die Rauminstallation Paisaje Ausentado [Abwesende Landschaft] des chilenischen Künstlers Cristián Salineros gezeigt. Wie ein organisches Gebilde wand sich die aus dem Drahtgeflecht von Vogelkäfigen bestehende monumentale Form durch einen rund 100 qm großen Ausstellungsraum und schob sich wie ein Keil in den Weg des Besuchers. Futterbehälter und zarte Vogellaute, die aus dem Inneren der Skulptur zu vernehmen waren, bestätigten die Anmutung eines Käfigs. Mit seiner eigens für das Museum DKM konzipierten Arbeit schuf der 1969 in Santiago geborene Bildhauer eine Verbindung zwischen Architektur, Skulptur und Natur, die im Umschreiten immer wieder neue Perspektiven offenbart und beim Betrachter vielfältige Assoziationen auslöst.
Mit der Rauminstallation Paisaje Ausentado zeigte die Stiftung DKM bereits zum vierten Mal die Position eines zeitgenössischen chilenischen Künstlers. Die Arbeiten des 1969 in Santiago geborenen Bildhauers Cristián Salineros erinnern häufig an vertraute Alltagsgegenstände, sind zugleich aber eindeutig von Künstlerhand gestaltete Formen. Für einen Ausstellungsraum des Museum DKM hat Salineros eine zwölf Meter lange Arbeit geschaffen, die aus dem Drahtgeflecht von Vogelkäfigen gefertigt wurde. In organisch anmutenden, an- und abschwellenden Volumina sowie in schlauchartigen Ausdehnungen windet sie sich, einen Bogen beschreibend, durch den Raum und zwingt den Betrachter, sie im Umschreiten zu erfassen.
Trotz ihrer Monumentalität wirken Salineros‘ Skulpturen aufgrund seiner Vorliebe für geflochtene, gitterartige Strukturen niemals schwer oder massiv. Indem er Sockel oder Plinthe vermeidet, bringt er den Betrachter auf Augenhöhe zu seinen Formfindungen. Da das Objekt einen Großteil des Ausstellungsraums in Anspruch nimmt, drängt es den Besucher an den Rand oder nimmt diesen in seine Mitte auf. Mit der Bewegung um die Skulptur offenbart sich eine weitere ambivalente Qualität: Sie ist dreidimensionales Volumen und hat doch grafische Eigenschaften, da die rasterartige Oberfläche – Effekten der Op Art vergleichbar – immer wieder neue Überlagerungen, Rautenstrukturen und Verflechtungen ergibt, die das Auge irritieren.
Wie aber ist der Titel Paisaje Ausentado mit diesem widersprüchlichen Befund in Einklang zu bringen? Cristián Salineros‘ Landschaftsbegriff ist weniger ein geographischer als vielmehr ein philosophischer, der auf die subjektive Wahrnehmung einer ästhetischen Ganzheit zielt. Landschaften finden sich demnach nicht nur in der Natur, sondern können überall, auch in Innenräumen, vorhanden sein. Vor allem aber entsteht Landschaft im Betrachter selbst und ist Produkt seiner Subjektivität und Assoziationskraft. Sie bedarf bisweilen nur kleinster Auslöser, wie eines Geruchs oder Geräuschs, um Gesehenes und Erlebtes in Erinnerung zu rufen. So treibt Salineros ein vielschichtiges Spiel, das auf ironische Weise unsere Ordnungssysteme durcheinanderbringt, zugleich aber Bilder in uns wachruft und, so Stefanie Hessler, mit dem Begriff der Absenz auf etwas verweist, das einmal war oder noch nicht gewesen ist.
Cristián Salineros schafft Relationen zwischen Landschaft, Architektur und von Menschen geschaffenen sozialen Strukturen. Oft erinnern seine Arbeiten an die Formen und Funktionalität von Design. Dabei setzt Salineros sich kritisch mit dem Verhältnis von Raum und Werk auseinander. Er untersucht, wie räumliche Konstellationen einerseits machtpolitische Funktionen widerspiegeln und gleichzeitig die Beschaffenheit des Subjekts, das sich in ihnen bewegt, konstruieren und formen.
Körper und Körperlichkeit, Volumen, Abgrenzungen und das Spiel mit räumlichen Perspektiven sind wesentliche Elemente in Salineros Arbeit. Das Verhältnis von Innen und Außen ist dabei nicht nur ein ästhetischer Ansatzpunkt, sondern immer auch ein politischer: Wer bestimmt die Voraussetzungen und Spielregeln, die darüber entscheiden, wer etwas zu sagen hat und wer sich am Rande aufhält? Wie sind die gesellschaftlichen Strukturen dahinter beschaffen und wer verfügt über welche Art von Möglichkeiten, um diese zu hinterfragen und zu verändern?
Für seine Arbeit Paisaje en Reserva [Landschaft in Reserve] (2009), brachte Salineros einen Hochspannungsturm in den Ausstellungsraum der Galerie Moro in Santiago de Chile. Den 1000 Kilogramm schweren Turm installierte er zentriert an einer Seitenwand der Galerie, so dass dieser horizontal ausgerichtet in den Raum ragte. Besucher konnten in die Skulptur hineinlaufen und die veränderte Perspektive und Aufhebung der Funktion in unmittelbarer Nähe und Intensität erleben. Die Logik der Konnektivität, Leitungsfähigkeit und der ökonomischen und sozialen Dimensionen von Elektrizität wurde umgeworfen und die Position der Betrachter verunsichert und hinterfragt.
Mit Paisaje Contenido [Enthaltene Landschaft] (2005), konstruierte Salineros im Künstlerhaus Göttingen eine artifizielle Umgebung aus 40 schwarzen Behältern aus Polyäthylen, die er in zufälliger Anordnung auf einem plüschartigen Untergrund aus Kunstrasen platzierte. Mit der Arbeit schuf er eine neue Idee von Landschaft, basierend auf der Künstlichkeit der Objekte und geprägt von den Entscheidungen und Eingriffen des Künstlers anstelle von natürlicher Entwicklung.
Die im Museum DKM ausgestellte Arbeit Paisaje Ausentado [Abwesende Landschaft} (2012), ist, wie der Titel vorwegnimmt, eine Allegorie für einen Naturraum. Vielmehr als auf eine leere, verlassene Gegend in der vormalig Leben war, verweist sie auf eine an sich fehlende Landschaft. Der Vogelkäfig in der Form eines Bumerangs, mit einigen zusätzlichen Ausbuchtungen und Details an den Enden, wurde in Zusammenarbeit mit professionellen Käfigbauern hergestellt. Die Stahlstruktur ist mit elektrostatischer, wärmebehandelter Farbe übermalt und lässt das Gewölbe wie ein monochromes und langlebiges Designobjekt erscheinen. Die Perfektion und Ästhetik von Design werden von Salineros in der Arbeit aufgenommen, die Nützlichkeit des Objekts für den alltäglichen Gebrauch und der durch Marken geschaffene scheinbare Mehrwert gleichzeitig jedoch hinterfragt.
Während in seiner Arbeit Jaula [Käfig] (2011), das Volumen noch von gelben Kanarienvögeln bewohnt war, ist der Innenraum von Paisaje Ausentado unbelebt. Ausgehend von der Tradition von Tieren in der Kunst in Arbeiten von Künstlern wie Joseph Beuys, Carsten Höller oder Jannis Kounellis geht Salineros einen Schritt weiter und zeigt in der Abwesenheit von Leben das, was potenziell möglich ist. 14 Futterstationen verweisen auf die Erinnerung an vormals gewesenem und in Zukunft denkbarem Leben innerhalb des Volumens. Der Klang von Vogelgesang und Gezwitscher wandert von einer Futterstation zur nächsten und zurück. Der Käfig wird so zur Klangskulptur. Man kann sich die Flugbahn der Vögel in den zwölf Meter langen und fünf Meter breiten Tunneln, Kurven und Wölbungen vorstellen, und dem Klang entlang der Futterstationen folgen. Der Käfig nimmt dabei gleichzeitig die Funktion zum Schutz der Vögel vor der Außenwelt und Sicherung davor, dass sie entfliegen, an.
So wird die Skulptur ähnlich wie im Sinne von partizipatorischer Kunst erst dann belebt und wahrgenommen, wenn eine Person dem potentiellen Flugweg folgt und das Volumen mit wanderndem Vogelgesang von allen Seiten und Perspektiven wahrnimmt. Indem Betrachter in die Freiräume zwischen den Armen der Skulptur hineingehen können, werden Hierarchien und die geläufige Praxis von distanzierter Kunstbetrachtung humorvoll aufgehoben. Die räumlich-zeitliche Dimension der Ausstellung ist nicht allein durch kognitive Wahrnehmung erfahrbar, sondern kann nur dann erlebt werden, wenn wir uns auf die assoziative, leibliche Form des Ausstellungsbesuchs einlassen. Im Umkreisen und in die Skulptur Hineingehen wird eine andere Dimension von Landschaft und Erleben erfahrbar.
Paisaje Ausentado ist in diesem Sinne keine repräsentative Arbeit. Sie geht über die Verweisfunktion von Kunst, die Nutzbarkeit des Käfigs und das Leben der Vögel darin hinaus. Statt rein symbolisch auf bestehende räumlich-zeitliche Ordnungen und Machtstrukturen hinzuweisen, erschafft Salineros mit der Skulptur neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, die erst mit der Erfahrung der Betrachter aktiviert werden. Anti-monumental und nichtdarstellend verschiebt die Arbeit den Fokus der kennzeichnend ästhetischen Betrachtung von Kunst hin zu ihrer sozialen Funktion und Wirkung. Dabei schafft es
Salineros, sich nicht von den Schwachpunkten von relationaler Ästhetik und Spektakel irreführen zu lassen. Seine Arbeit ist eine subtile Alternative zu deren Problematik, auf die Nato Thompson hinweist: „[…] socially engaged art can easily be used as advertising for vast structures of power, from governments to corporations. Determining which forms of social engagement truly lead towards social justice is a constant source of debate. Knowing this, in itself, is useful.“1
Die Absenz von Leben und gleichzeitige Möglichkeit, die Struktur zu bewohnen, spricht von Utopien und Handlungsoptionen. Die Arbeit verweist auf das, was einmal war oder noch nicht gewesen ist: auf eine abwesende mögliche Alternative, die sich innerhalb des Volumens verwirklichen ließe. Leben und potenzielle Bewohnbarkeit werden lediglich angedeutet. Die eigentliche Funktion des Käfigs ist damit aufgehoben, und die Skulptur wird zu einer Idee von Käfig die trotz ihres generischen Charakters und Dank der idiosynkratischen Form und Präsentation im Ausstellungsraum spezifisch bleibt. Die Dynamiken zwischen Subjekt, Objekt und Raum werden so wie von Jacques Rancière beschrieben verändert; Kunst opponiert gegen die bestehende hierarchische Aufteilung des Sinnlichen und erschafft eine neue Erfahrung und somit andere potentielle Realität.2 Mit Paisaje Ausentado öffnet Salineros einen Interpretationsspielraum, der es Betrachtern erlaubt, das Verhältnis von Landschaft, Objekten und sozialen Gefügen anders zu erleben und ihre Position darin zu hinterfragen.
Stefanie Hessler
1 Nato Thompson, Living as Form. Socially Engaged Art from 1991–2011, Massachusetts 2012, S. 32.
2 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.