Añañuca _ Flor de Chile
02.12.2005 – 19.02.2006
FLOR DE CHILE
Innerhalb der chilenischen Kunstszene ist Julen Birke ein aktives Mitglied einer neuen Bildhauergeneration, die seit Mitte der neunziger Jahre eine entschiedene Erneuerung ihrer Praxis unternommen hat. Um die Bedeutung des Einflusses dieser Bewegung in der chilenischen bildenden Kunst richtig zu gewichten, ist zu sehen, dass die Bildhauerei in ihrer Entwicklung historisch hinter den anderen Ausdrucksformen der visuellen Künste zurück lag. Noch Mitte der neunziger Jahre waren in Chile der an die Denkmalslogik gebundene klassische Kanon sowie der modernistische Kanon der Skulptur als autonomes Objekt gültig. Die große Mehrheit der Bildhauer arbeitete weiterhin mit Formen monolithischen Charakters und traditionellen, edlen und dauerhaften Materialen, so dass Experimente im Bereich der Ausdrucksformen und Materialien kaum Raum fanden.
Die neuen Bildhauer markieren eine radikale Wandlung in der Auffassung des bildhauerischen Objekts, die sich in der Erforschung von Formen, Techniken und Materialien aus Konsumwelt und Industrie widerspiegelt, sowie in der Etablierung eines neuen kommunikativen Verhältnisses zwischen Objekt, Umfeld und Publikum. Die Skulptur ist nicht mehr das in sich selbst geschlossene Objekt und wird zu einem provozierend stimulierenden Element, das den Raum und den Blick befragt.
Julen Birkes Werk beinhaltet eine Reihe von Brüchen mit der traditionellen Bildhauerei. Zum einen sind die Arbeiten nicht „einzigartig“, sondern es handelt sich um Serienproduktionen. Zum anderen wählt sie Materialien, die aus der alltäglichen Welt – und ganz besonders aus dem Bereich der Textilien – stammen. Ihre Skulpturen sind Objekte aus Stoff, Baumwolle, Plastik und Gummibändern, die mit einer Technik von Zuschnitt und Konfektion verarbeitet werden, was ihnen ein vertrautes – und gleichzeitig zerbrechliches – Aussehen gibt. Im Gegensatz zu den „edlen” und „dauerhaften” wählt Julen Birke einfache Materialien, die den klimatischen Verhältnissen und dem Zeitverlauf gegenüber anfällig sind. Ihre Objekte sind in der Regel weich statt hart und häufig aufblasbar. Auf diese Weise verliert das Publikum gegenüber ihren Arbeiten die Distanz, die vor heiligen und ehrwürdigen Objekten gewahrt wird, und ersetzt sie durch eine freundlichere Annäherung. Manchmal versuchen die Zuschauer, sich auf eine Skulptur zu setzen, die ein aufgeblasenes Kissen simuliert, oder ein Objekt anzufassen, das wie ein Geburtstagsluftballon im Raum schwebt.
Julen Birkes Arbeiten entstehen aus einer Perspektive, die eine Alternative zur Logik der Macht darstellt, und in diesem Sinne fordern sie eine neue Sensibilität ein. Es handelt sich um Arbeiten, die ohne Frage den Dialog der Betrachtung, das Spiel des Respekts und das Gefühl der Vernunft vorziehen; Arbeiten, die definitiv als kommunikative Stimulanzen gedacht sind und eines Anderen bedürfen, um ihren Sinn zu komplettieren.
Auch wenn ihre Arbeiten aus der Perspektive des Dialogs mit dem Zuschauer gedacht sind, so bindet sie doch das Umfeld ein. Jedes Werk ist gedacht und ausgelegt, um an einem spezifischen Ort, Sinn zu konstituieren. Auf diese Weise konstruiert Julen Birke wahrhafte bildhauerische Installationen, bei denen die Intentionalität in der Wirkung des Ganzen und in der Fähigkeit liegt, neue Deutungen hervorzurufen, die den Raum und den Blick hinterfragen. Bedeutsam ist, dass Julen Birke ihre Befragung des Raums radikalisiert hat. Während also ihre ersten Arbeiten aus in Ausstellungsräumen angeordneten Objekten bestanden, installierte sie schon im Jahr 2002 Objekte auf freiem Feld in einem ländlichen Sektor, womit sie die Skulptur in ein breites Feld der Intervention des Territoriums – im Sinne der land art – setzt. Ausgehend von der Skulptur handelt es sich dabei fraglos um eine Reinterpretation der Landschaft, die man nicht nur in der Auswahl der Installationsorte wahrnimmt, sondern auch in der Rekurrenz des Aussehens, der Farben und ausgestellten Formen, die ländlichen, städtischen oder künstlichen Landschaften eigen sind.
Ein fragloser Verdienst Birkes ist, eine eigene visuelle Prägung geschaffen zu haben: Wo immer man ihre Arbeiten sieht, erkennt man die charakteristische Handschrift der Autorin. Man könnte sagen, dass Julen Birke nicht an der Suche nach der „Neuheit” oder des schlagenden Eindrucks interessiert ist, sondern sie verfolgt eher die Entwicklung und Vertiefung ihres eigenen visuellen Denkens. Im rigorosen und methodischen Bestehen auf ihre formalen und theoretischen Obsessionen konstruiert Birke einen kohärenten Sinn, der erlaubt, auf die Konsolidierung ihres Ansatzes zu setzen.
Die Arbeit Añañuca, die Julen Birke jetzt vorstellt, resümiert und potenziert mehrere der in ihrem Werk konstant präsenten Elemente. Allgemein gesprochen konjugiert sie zwei konzeptionelle Elemente: das historische Zitat des Umfelds und die bildhauerische Rekonstruktion der Landschaft. In den Worten der Künstlerin: “Es interessiert mich, Räume zu besiedeln oder zu besetzen, wobei ich mich dem Problem der Bewohnbarkeit des Raums stelle, wozu ich die serielle Herstellung ausgehend von einem Standardmodul verwende, was letztlich ein Aneignungssystem konstituiert. Ich arbeite mit Bezügen aus der Natur, sowohl im Prozess der organischen Vervielfältigung der Module als auch bei den ihnen eigenen Farben”.
Bei dieser Gelegenheit geht die Künstlerin von einer Reflexion über den Ausstellungsort aus: die Galerie der Stiftung DKM in Duisburg, einem ehemaligem Binnenhafen mit bedeutender industrieller Vergangenheit, ablesbar an den noch sichtbaren baulichen Strukturen, die im urbanen Projekt „Garten der Erinnerungen“ des israelischen Künstlers Dani Karavan konserviert worden sind. Die Hauptidee war, einen Ort der Erinnerung zu schaffen, der auf die Glanzzeiten des Hafens verweist. Die Galerie befindet sich innerhalb des Industrieparks jener Epoche und gehört zu den konservierten Bauten des heutigen „Garten der Erinnerungen“.
Julen Birke verarbeitet diese geschichtlichen, kulturellen und visuellen Informationen im Rahmen der Idee eines industriellen Grundstücks (das somit steril, künstlich ist), das sich über die Mechanismen der Nostalgie in einen Garten der kollektiven Erinnerung verwandeln kann. Ausgehend von diesem Konzept präsentiert sie eine Analogie mit der blühenden Atacama-Wüste Chiles, einem Phänomen, das im Frühjahr in einer der trockensten Landschaften der Welt zu beobachten ist. An einem Ort, wo sich niemand das Sprießen eines Samens vorstellen kann, geschieht das Wunder, und Jahr für Jahr machen sich tausende von Touristen auf den Weg, um dem farbenträchtigen Schauspiel beizuwohnen. Die Arbeit besteht letztlich aus der Installation einer bildhauerischen Reinterpretation der blühenden Wüste innerhalb der Galerie, die wie ein Zitat funktioniert, das die Künstlerin in das Umfeld des Ausstellungsraums umleitet. Julen Birke setzt spezifisch die Añañuca als Referenz ein, eine rosa Blume, die zusammen mit den anderen Pflanzen der Wüste erblüht. Somit entspricht jedes Stück einer Blume. Die Volumen sind von innen erleuchtet (schaffen eine rosa Atmosphäre) und projizieren Licht nach außen, so dass sich eine Schnittstelle zwischen dem inneren Garten (der von ihr kreiert wird) und dem – ebenfalls erleuchteten – äußeren Garten ergibt. In den dunkelsten Monaten des Jahres schafft Julen Birke nicht nur einen Lichtgarten aus Leucht-Skulpturen, sondern sie verwandelt die Galerie selbst in eine Lichtquelle, potenziert ihre Architektur und ihr Design in Schaufensterform mit vier Fensterfronten, durch die Licht ein- und austritt. Aus technischer Sicht besteht die Arbeit aus 300 zylindrischen Volumen mit 35,5 cm Durchmesser und 18 cm Höhe, die aus rosafarbenen Putztüchern hergestellt sind. Jedes Volumen beinhaltet eine Glühlampe und alle Elemente sind mit durchsichtigen Kabeln verbunden.
Interessant zu sehen ist, dass Julen Birke seit einiger Zeit in Deutschland lebt, was für sie bedeutet, die kreative Arbeit entsprechend der vom Umfeld gebotenen Möglichkeiten neu organisieren zu müssen. Das ist für sie zugleich Herausforderung und Gelegenheit, ihren Kontext neu zu überdenken und Alternativen zu entdecken, die ohne Zweifel ihre Ausdrucksfähigkeit erweitern werden.
Catalina Mena
Santiago de Chile, September 2005
(übertragen ins Deutsche von Sven Olsson-Iriarte)