Eccéité
25.04.2014 – 25.08.2014
Zur Ausstellung ist ein Booklet mit einem Text von Beat Wismer und Fotografien von Werner J. Hannappel erschienen.
Der Spiegel des Unendlichen an der Oberfläche
Zu Gianfredo Camesis Installation Eccéité
Wenngleich Gianfredo Camesi verbreitete Topoi der 1960er und 1970er Jahre wie Zeichen, Raum, Körper, Prozess, Natur und Energie behandelt, ist seine Arbeit keiner Richtung eindeutig zuzuordnen; es lassen sich Verbindungen zur Arte Povera, Konzeptkunst oder Konkreten Kunst feststellen, ohne dass diese jedoch als Schublade taugten. Der Autodidakt zählte etwa ab 1970 zur avantgardistischen Schweizer Kunstszene und nahm an wichtigen Ausstellungen wie 22 junge Schweizer in der Kunsthalle Bern und im Stedelijk Museum Amsterdam 1969 oder Visualisierte Denkprozesse, kuratiert von Jean-Christophe Ammann im Kunstmuseum Luzern 1970, teil. Dieser letzte Ausstellungstitel trifft den stark konzeptuellen Ansatz des Künstlers, der in komplexen Werkserien systematisch bis obsessiv seine persönliche, aus verschiedenen humanistischen und spirituellen Ideen gespeiste Philosophie verbildlicht.
Ebenso wie seine Einzelwerke bieten Gianfredo Camesis Ausstellungen einen visuellen Bezugsrahmen, seine komplexe Gedankenwelt nicht in einzelnen Aspekten, sondern in ganzer Tiefe zu ergründen. Sie folgen in ihrem Aufbau der gleichen Logik und sind als eigenständige Arbeiten bewertbar, die wie eine mise en abyme, ein Bild im Bild im Bild, funktionieren: Sind im Einzelobjekt bereits Inhalte angelegt, die in der dazugehörigen Werkserie einen größeren Rahmen erhalten, so erweitert sich dieser in der Ausstellung noch weiter. Das Thema wird durchexerziert, im Grunde ist das einzelne Bild jedoch ein eigener Mikrokosmos.
Vorstellungen von Unendlichkeit und Einheit sind Teil dieses Denkens. «Das Universum ist in uns, die Welt ist sein Spiegel», schreibt Camesi, auf die Idee hindeutend, dass alles in allem enthalten ist, und auch Universum und Mensch in eins fallen. Nichts steht für sich allein. Er selbst spricht – immer wieder und auch in Werktiteln – von der «dimension ». Dieser Blick auf das Ganze lässt seine künstlerische Arbeit als eine lebenslange Suche nach den Universalgesetzen der Welt, nach einer Kosmogonie verständlich werden. Damit steht Camesi der Alchemie nahe, auf die er sich schon in früheren Arbeiten, etwa durch die Thematisierung der vier Elemente Wasser, Erde, Feuer, Luft direkt bezog und bis heute bezieht. Die Elemente sind auch in der ab 2008 entstandenen, mehr als 100-teiligen Arbeit Eccéité zu finden. Erde (Berge), Wasser (Meer), Luft (Himmel) und Feuer (Licht) sind in Fotografien und Farben präsent, und die Farben der monochromen Gemälde – Blau, Rot, Grün, Gelb – können als Erweiterung dieses Prinzips gedacht werden. Ein zahlenmystischer Text Camesis endet mit den Worten „und das Vielfache der vier Elemente für die drei alchimistischen Prinzipien“. Mit den «drei alchemistischen Prinzipien» ist der Dreischritt zur Erkenntnis, also dem Stein der Weisen, gemeint, der von der nigredo (Reinigung der Materie) über die albedo (Reinigung des Geistes) zur rubedo (Verbindung von Körper und Geist, Endlichem und Unendlichem) verläuft.
Eine Konstante in Camesis Denken und Arbeiten ist es, das Unendliche (Universum) mit dem Endlichen (uns, der sichtbaren Welt) und den Körper mit dem Geist zu vermitteln. Dabei handelt seine Kunst immer wieder auch von Anfängen, vom Selbst und der Verortung des Körpers in Raum und Zeit. Eccéité ist kaum ohne einen Verweis auf die Herkunft des Künstlers zu denken. Er stammt aus dem kleinen Ort Menzonio im urtümlichen Maggiatal und kehrt immer wieder hierhin zurück. Die zur Serie gehörenden Aufnahmen eines Berges im Wechsel der Licht- und Wettersituation sind dort entstanden. Camesis Biographie ist durch zahlreiche Ortswechsel geprägt. Zuletzt zog es ihn 2002 nach Köln, wo er seither lebt – nie blieb er so lange an einem Ort wie hier. Dieses im doppelten Wortsinn bewegte Leben mag ein Grund dafür sein, dass Wege und Lebenswege des Menschen einen starken thematischen Eingang in sein Werk fanden. Bei aller Selbstbezüglichkeit ist diese Kunst jedoch vor allem ein Aneignungs- und Identifikationsangebot, getreu dem Gedanken, dass alles in einer gemeinsamen Dimension miteinander in Verbindung steht. Die Inszenierung von Eccéité im Duisburger Museum DKM verdeutlicht, wie das umfassende, universale Werk das Abschreiten der Einzelbilder einfordert und damit ein schrittweises Nachvollziehen des vorgeschlagenen Weges: Vom Menschen Camesi über die Natur, Licht- und Wetterphänomene der Berge, über ein Bild, das zugleich auf sein persönliches Geburtssternzeichen und auf den Kosmos verweist (Constellation du Dragon), und eines, das mit einem farbgesättigten Fußabdruck auf der Leinwand das Schreiten ins Bild setzt (Chemin du corps), zu Bildern von Himmel und Meer, die nach und nach in der Abstraktion und Monochromie aufgehen. Die wie Filmstills zu lesende Verwandlung von fotografierten Bildern, in denen sich der Berg langsam in Wolken hüllt, zu flächendeckender, einfarbiger Malerei, zu Aufnahmen des breit lagernden Ozeans, macht das Thema der Transformation besonders deutlich. Auf Erde folgt Wasser, auf den vertikalen Berg das horizontale Meer; die Horizontalen und Vertikalen multiplizieren sich, um beim Kreuz im Goldenen Schnitt anzugelangen. Einen Weg zu gehen, bedeutet auch die Wahrnehmung von Veränderungen in Raum und Zeit, die den Menschen unmittelbar betreffen. Mit dem Gedanken «Vom Weg des Körpers zum Körper des Denkens» positioniert sich Camesi in einem großen Themenkomplex der westlichen Philosophie, der sich mit dem Verhältnis von Leib und Seele befasst. Die Rolle der Veränderung und des Weges – auch jenes des Besuchers in der Ausstellung – wird dabei betont. Auch Présence, die Abbildung einer buddhistischen Statue aus dem Ostasiatischen Museum in Köln, spiegelt diese Frage, wenngleich die meditierende Gestalt ihren Weg geistig und ganz und gar im Stillstand zurücklegt. Präsenz, ein Begriff, der sich sowohl auf den Körper wie auch auf den Geist beziehen kann, bringt die komplexe Bezugsetzung des Künstlers zwischen Körper und Geist auf den Punkt. Vor den Aufnahmen der heimischen Bergwelt Camesis thront die Statue außerdem wie ein Torwächter; sie vermittelt den Eindruck, von einem Bereich in den nächsten überzuleiten.
Diese Passage kann auf die verschiedensten Bereiche bezogen werden: vom Körperlichen ins Geistige, vom Endlichen ins Unendliche, vom Einzelnen ins Universelle. Auch Camesis Arbeiten mit dem Titel Point vital zeigen die Vermittlung von Persönlichem und Überindividuellem exemplarisch; in Duisburg wurde eingangs ein Senklot per Kreidelinie auf dem Boden mit dem Selbstbildnis des Künstlers an der Wand in Verbindung gesetzt. Das Lot ist, so sagt der Künstler, wie der Mensch aufgerichtet und befestigt, hat aber keine definierte Richtung und erreicht den Boden nie. Die lotrechte Linie deutet die Dimension des Unendlichen an. Vertikale und Horizontale sind ein charakteristisches Gestaltungselement des Künstlers; als vertikale Schnur und horizontaler Stab erscheinen sie in den meisten Einzelelementen von Eccéité. Ihre Symbolik ist in mystischen Lehren, in der Anthroposophie, in Meditationstechniken, aber auch in der Theologie – insbesondere bekundet im Kreuzzeichen – verankert. Ein die Bildfläche vertikal in der Mitte schneidender Faden und ein horizontal am unteren Bildrand lagerndes Rundholz sind Bestandteil der meisten Elemente der Installation. Die Vertikale steht für den spirituellen, geistigen Teil des Menschen und seine innere Wahrnehmung, während die Horizontale den körperlichen Aspekt – den ausbalancierten Körper, aber auch die Bewegung, den Weg des Menschen durch das Leben – andeutet.
Die Verbindung von Horizontalen und Vertikalen ergibt bei Camesi dann und wann, austariert im Goldenen Schnitt, eine Kreuzform. Nach Meinung mancher basiert der Goldene Schnitt auf den Maßverhältnissen des vitruvianischen Menschen, der durch das ikonische Bild Leonardo da Vincis populär geworden ist. Die humanistische Tradition der Renaissance ist, neben vielen anderen, ein wichtiger Anker in Gianfredo Camesis Arbeit. Für die Auseinandersetzung mit Raum beziehungsweise Perspektive und Proportion wurde die menschliche Wahrnehmung in der Renaissance zum Ausgangspunkt. Hans Belting beschrieb die Wende zu dieser Auffassung: «Das perspektivische Bild stellte erstmals den Blick dar, den der Betrachter auf die Welt wirft, und verwandelte dabei die Welt in einen Blick auf die Welt.»[1] Sicherlich auch unter dem Eindruck konstruktivistischer Theorien verdeutlichte Camesi schon als junger Mann seinen eigenen Standpunkt zum Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit 1968 in einer Weise, die ebenfalls eine Abhängigkeit von Subjekt, Blick, Objekt und Wirklichkeitserfahrung offenbart: «Jegliche Manifestation von Wirklichkeit, in egal welcher Form, ist ein Ergebnis der Wahrnehmung verschiedener Punkte eines Raums im Raum».[2]
Der Titel der Arbeit, Eccéité, bedeutet Diesheit und weist, mit dem Wortstamm in jenem ecce der Kombination ecce homo einerseits auf den Menschen, andererseits auf das Sehen. Jean-Luc Nancy erklärte den Begriff folgendermaßen: « ist Sein, das von allem befreit ist, das nicht sein Hiersein oder sein Dasein ist.»[3] Es geht um die Präsenz der Dinge im Raum, die, wie Camesi mit seinen Bildern zeigen will, eine zeitlich begrenzte ist. Wie verhalten sich Sein, Zeit und Raum zueinander? Die Skulpturen Trace und Vacuité nähern sich dieser Frage deutlich an. Ihr Umgang mit der Leere ist nicht weit entfernt von Yves Kleins Interesse am Unendlichen. 1958 stellte jener als Le Vide einen leeren Raum aus und radikalisierte damit seine Beschäftigung mit dem Immateriellen, das stets auch eine spirituelle Dimension hatte. Näher noch kommt man Camesis Konzeption jedoch mit dem buddhistischen Begriff der Leerheit. Anders als im westlichen Verständnis vom Nichts beinhaltet dieser, verkürzt gesagt, dass alles unbeständig, im Wandel und damit ohne eigentliche Substanz existiert. Die wahrnehmbare Welt ist ein Moment in einer steten Veränderung. Gianfredo Camesi selbst sagt: «Ein Augenblick in der Ewigkeit, das ist unser Leben».[4] Vor dem Hintergrund, dass das Endliche ein Teil der Unendlichkeit ist, muss auch der Titel Eccéité verstanden werden. Die Gemälde In/finito und Constellation du Dragon spiegeln diesen Gedanken wider: Punkt und Gerade stehen für Endliches und Unendliches und die Sternenkonstellation des Drachens für die Unendlichkeit des Kosmos, die aus endlichen Sternen besteht: «Die Tiefe ist der Spiegel des Unendlichen an der Oberfläche». Eccéité stellt das Leben des Menschen in einen universellen Zusammenhang und nutzt dafür zeichenhafte Bilder und Objekte, die vom gleichen Verhältnis vom Einzelnen zum Ganzen bestimmt sind. Wie die Bilder Mikrokosmen sind, so ist es auch der Mensch.
Beat Wismer
[1] Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 2008, S. 23 f.
[2] „Toutes manifestations de la réalité, sous n’importe quelle forme, sont un résultat de la perception de différents points d’un espace dans l’espace“; Manifest zu Camesis Ausstellung in der Galerie Palette, Zürich 1968.
[3] „Ecceity is being that is stripped of everything that is not its being-here – or its being-there“; Jean-Luc Nancy: The Birth to Presence. Stanford 1993, S. 46.
[4] „Un instante di eternità, questo è la nostra vita“; Walter Tschopp: L’atelier di Colonia; in: Elio Schenini (Hrsg.): Gianfredo Camesi. Ausst.-Kat. Museo Cantonale d’Arte Lugano 11.6.–18.9.2011. Lugano 2011, S. 261.