Fliegende Katakomben

THOMAS VIRNICH

26.01.2004 – 30.04.2004

Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel

Fliegende Katakomben _ Thomas Virnich

Mit diesen Skulpturen erfüllte Thomas Virnich sich einen Traum. Zwischen Wolken und Wurzeln, zwischen Tempeln oder Pyramiden und Raumstationen, also zwischen oben und unten, sowie gestern und morgen, treiben die großen Teile der beiden Häuser und des Gartens, in denen der Bildhauer mit seiner Familie in Mönchengladbach lebt und arbeitet. Schon lange beschäftigte ihn die Vorstellung, sein zu Hause, die Gebäude einer alten Schule aus dem 19. Jahrhundert, einmal aus größerer Höhe in Augenschein zu nehmen. Obwohl ihm jeder Winkel vertraut ist, wurde die räumliche Ordnung der von oben betrachteten eigenen verkleinerten Welt zum Tableau für ungeahnte Entdeckungen und plastische Fantasien. Die Fliegenden Katakomben bestätigen das selbst gewählte Motto seiner künstlerischen Vorgehensweise: „Ich arbeite biografisch.“

Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel
Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J Hannappel

Um es mit der vertrauten heimischen Situation auf künstlerische Weise aufzunehmen, hat Thomas Virnich eine gehörige Menge an Optimismus und Ausdauer investiert und in umfassende Mengen an Pappe, Holz, Leim und Farben, sowie Glühlampen, Besenstielen, Zinkblech, etc. überführt. Zuvor entstanden kleine, handliche Varianten, um sich an die Aufgabe heranzutasten. Und um das Risiko einer Ausführung im Maßstab 1:10, seiner bisher größten plastischen Arbeit, auf sich zu nehmen, beschloss er, die Gebäude bis ins Einzelne, vollständig und detailgenau, wie ein Modellbauer nachzubauen. Später kam der Hof mit all seinen Ecken dazu, die Bäume und die dazwischen abgestellten Fundsachen und Skulpturen, die Straßenlampen und das Licht der Straßenlampen, sowie der Himmel darüber, schließlich die verborgenen Räume und Gegenstände unter den Dächern und in der Erde, die Erinnerungen und Vermutungen, die sich mit allem verbinden – am Ende, ein Universum voller Verwicklungen aus Materialien und Ideen, aus Wirklichkeit und Fiktion.

Betrachtungen aus der Überschau lieferten dem Bildhauer schon in der Vergangenheit wiederholt den nötigen Eintritt in die schöpferische Rivalität mit der Wirklichkeit. So z.B. als er vor einigen Jahren die Erde formte. Indem er ihre Oberfläche nachbildete, entstand die Frage, ob die gewohnte Geografie des Globus an einer Modellvorstellung festhält, die unsere komplexen, durchaus sehr verschiedenen Ansichten von der Welt nur einseitig und statisch interpretiert? Bekanntermaßen ist die Welt veränderlich. Das hat den Bildhauer zu Alternativen veranlasst, weshalb er die gewohnte Ordnung der Verteilung von Land und Meer variierte. Er machte die Welt zerlegbar, so dass man ihre Bestandteile herausziehen und untersuchen kann, wie sie unter der Oberfläche miteinander zusammenhängen. Jede Veränderung in Einzelnen hat Konsequenzen für das Ganze. Gerade weil Entropie beim Thema Erde Emotionen auslöst, wird jede Veränderung der Skulptur zum unkalkulierbaren Spiel. So lässt sich der Zustand der Welt schwerlich vorausahnen. Mit dieser Eigenschaft wurde die Skulptur der Erde trügerisch real.

Die großen haltlosen Skulpturenbrocken entstanden mühelos und ohne Plan, allein der Logik der Hand, dem Spiel, der Empfindungen und jeder spontanen Eingebung überlassen. Thomas Virnich bemächtigt sich der Realität als formbare Materie in aller subjektiven Konsequenz. Sein plastisches Vorgehen vollzieht sich in Schüben euphorischer Anspannung und Aktion, verbunden mit plötzlicher Nervosität und Selbstzweifeln. Schon aus dem Abstand einiger Minuten kann der Stand der Dinge spontane Entscheidungen erfordern. Dramatische Eingriffe und ungebremste Affekte folgen Raumvorstellungen, auf die es emotional zu reagieren gilt, weil sich rational diese Skulpturen nicht vorher beschreiben lassen. Im Zersplittern und Neuzusammenfügen der Teile stecken keine gegensätzlichen Prozesse, sondern ein notwendiger Dualismus. Er durchzieht die Arbeiten dieses Bildhauers als Methode. Auch in den Fliegenden Katakomben wird das Irrationale zum genetischen Prinzip, entpuppt sich die scheinbare Monumentalität der Sujets als andauernder Unsicherheitsfaktor für unsere Wahrnehmung. So erklären sich die wirren Flugbahnen ihrer Bestandteile und ihre permanente Kollision an den Gesetzen von Maßstab und Gravitation.

Vor eine wachsende Fülle an zivilisatorischen Scherben und Fragmenten gestellt, verweilen manche Bildhauer in den Dekorationen einer selbstbezüglichen Rhetorik. Denn wo sich die Herkunft der Scherben verliert, geraten die Grenzen der Verantwortung leicht aus dem Blickfeld. Die fragmentarische Plastik der Gegenwart, der auch Thomas Virnichs Arbeiten zugehören, aber bestätigt sich darin, dass sie die Idee einer radikal offenen Skulptur glaubwürdig beansprucht. Das steht außer Zweifel, solange sie Ambitionen der Repräsentation abwehrt, dann würde ihre subjektive Symbolkraft nachlassen und sie ebensolche doktrinären Eigenschaften annehmen, wie die Monumente des Statuarischen und Dauerhaften, die sie unterläuft.

Thomas Virnich verweigert uns alles Endgültige. Er entzieht die gefundene Wirklichkeit der Originalität durch subjektive Simulation, er leugnet Materialtreue und Ordnungssinn. Aber seine Skulpturen besitzen ein Gedächtnis für alle Geschehnisse, die sie bereits erfahren haben und alle Erwartungen, die ihnen noch bevorstehen. Auf diese Weise sind sie sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer Auflösung präsent. Mit diesem charakteristischen Dauerkonflikt enthalten sie Zusatzinformationen über unsere Welt in der Art von Einblendungen, die keine fertigen Lösungen bieten, die unvorhersehbar, provisorisch, zuweilen trotzig, aber weithin offen sind. Es sind die Ausgangspunkte für Wege, die unsere mentalen Registraturen für Ordnung und Schönheit in ihrer vermeintlich nutzlosen, desorientierenden Unordnung unterlaufen und uns positive Freiräume für Hoffnungen und Möglichkeiten erschließen.

Uwe Jens Gellner