Hindsight Bias

RAIMUND KUMMER

02.03.2007 – 24.06.2007

Raimund Kummer, Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J. Hannappel

Hindsight Bias
Siehe! — und nicht glauben, es schon gewusst zu haben

Faktisch verschlossen zeigt sich die Fenstergalerie der Stiftung DKM im Duisburger Innenhafen während der Ausstellung Hindsight Bias – warum der Mensch im Nachhinein glaubt, vorher schon alles gewusst zu haben von Raimund Kummer. Wo ansonsten um das sowohl flüchtige wie intensive Hineinsehen gebuhlt wird, ist nun der Einblick verstellt. Denn zugestellt ist die Fensterfront mit Spiegeln auf rollbaren Gestellen. Und noch kaum die Spiegel sind als Spiegel zu erkennen, da lediglich ihre Rückseiten dem Flaneur zugewandt sind. Aus der Entfernung wirken so die vier Fenster als wäre im Innern die Aufbauphase der kommenden Ausstellung noch im Gange, als stünde das potentiell Auszustellende noch unpositioniert herum. Erst im Näherkommen schließlich drängt sich ein offensichtlich komponiertes Spiegelbild ins Auge. Die Skulpturen von zwei riesigen Glasaugen, nahezu zwei Meter hoch, an ihren jeweiligem Nervenstrang befestigt, spiegelt sich dem Blick von außen entgegen. Und im weiteren Näherkommen multipliziert sich das Auge zu einem Paar, zu drei, fünf, sieben, elf, dreizehn… «Paaren seiner Sehapparate», wie Raimund Kummer sie nennt, da es sich um Skulpturen handelt, die den Augen mit ihren Linsen und Muskeln wie Nervensträngen nachgebildet sind.

Über und über scheint der Raum gefüllt mit diesen riesigen, farblos transparenten, das sie anstrahlende Licht in unzähligen Punkten reflektierenden, und so venezianischen Leuchtern verwandt scheinenden, gläsernen Augen. Der Kenner seiner Werke kennt vergleichbare Skulpturen und Skulpturensembles, weiß um das thematische Quantum Kontinuum von Raimund Kummer, dem, sich den physischen Bedingungen unseres Sehens bildhauerisch zu nähern. Doch im Gegensatz zu schon gekannten Installationen wird bei der in Duisburg, die er «Versuchsanordnung» nennt, durch fünf um das Augenpaar positionierte Spiegel nahezu gänzlich verhindert, dass sich eine direkte Begegnung zwischen Skulptur und Betrachter ergibt – dies gilt zumindest für den Ausstellungsraum verstanden als Fenstergalerie, als Schaufenster für Installationen. Erst der Eintritt in den Ausstellungsraum, der gewöhnlich nicht für Ausstellungen an diesem Ort vorgesehen ist, ermöglicht ein direktes «Auge in Auge» von Skulptur und Betrachter. Von außen hingegen ist jedweder Blick auf die Sehapparate ein eingespiegelter.

Re-Vision skulpturaler Wahrnehmungsformen? Was erwirkt Raimund Kummer mit dieser Verspiegelung des Sehens seiner eigentlichen Skulpturen, seiner gläsernen Sehapparate? Auf den Raum der Fenstergalerie bezogen kehrt er das simple Verhältnis von Außen und Innen subtil um. Denn das Innen wird dadurch, dass er aus fünf Spiegeln einen inneren Spiegelraum schafft, auch zu einem Außen, zu einem Außen im Inneren. Auf die Skulpturen selbst bezogen ist festzuhalten, dass ihre Transparenz bewirkt, dass sie sich potenziert widerstandslos einspiegeln in die Spiegel, die sie spiegeln und so ein Verorten von gesehener Skulptur und «nur» von ihr gesehenem Spiegelbild nahezu verunmöglichen. Was letztlich zur Folge hat, dass die Realität der Skulptur schwindet zugunsten ihrer spiegelbildlichen Spiegelung, was wiederum bedeutet, dass von einer Skulptur als Tat-Sache nicht mehr zu sprechen ist, da ihr Sich-Zeigen immer davon abhängt, was sich situativ und aktuell mit einspiegelt. Das Faktum Skulptur verliert gewissermaßen an Bedeutung zugunsten ihres Speculums – ein Begriff übrigens, der dem Wort Spekulation eingeschrieben ist und angesichts der Duisburger Versuchsanordnung auch programmatisch zu verstehen ist. Zu spekulieren ist beispielsweise anhand der Fotos der Installation von Raimund Kummer auch: was macht eigentlich der Polizeiwagen im Werk dieses alten Anarchisten, was der Baukran, der Scheinwerfer, die Kamera auf dem Stativ, der Fotograf, der Betrachter…

Den Blick in den Spiegel richtet also fraglos nicht nur der Eitle. Ihn sucht nicht nur fasziniert von seinem eigenen Widerbild Narkissos, ihn verlangt nicht nur Venus zur Bestätigung ihres Anmutes und ihn scheut nicht allein der altersphobe Dorian Gray. Der Blick in den Spiegel – wie auch das Einspiegeln von Sichten – beinhaltet viel mehr. Er birgt eine nie ausschöpfend zu wissende Komplexität, gekleidet in visuell sich zeigende Phänomene. Sehe ich mich beispielsweise als Betrachter gespiegelt, erblicke ich dann mein Spiegelbild oder schaut mich mein Spiegelbild an…? (Möchte ich mein Spiegelbild fotografieren, so muss ich übrigens die Entfernung am Objektiv meiner Kamera den doppelten Abstand zum Spiegel einstellen.) Ja überhaupt: wer ist dies eigentlich, der dort zeitsynchron meine Bewegungen wiederholt, der die gleiche Kleidung trägt wie ich und von dem Dritte behaupten, er sehe aus wie ich? Und wo steht er, er, der vor mir hinter sich hat, was ich hinter mir habe, dessen Wand hinter ihm aber nicht so lotrecht steht wie die, die hinter mir den Raum abschließt? Wer schafft eigentlich die Skulptur? Dies wäre mit Blick auf Giuseppe Penones ROVESCIARE GLI OCCHI (Die Augen umkehren) zu fragen. Schafft sie Penone, der seine Augen 1970 verspiegelte, oder schafft sie derjenige, der in seine Augen schaut und sich in ihrer Verspiegelung spiegelt?

Ein ewiges Spiel eröffnet jeder Spiegel – und erst recht mehrere. Unendlichkeit wird ahnbar, schaue ich in einen Spiegel, der sich in einem parallel gestellten Spiegel spiegelt. Wirklichkeiten werden vorgestellt, die dort gar nicht sind, wo ich sie sehe, weil sie eben nur vorgespiegelt sind. Nicht vorhandene Dimensionen werden vorgetäuscht, indem ferne Weiten ins Enge eingespiegelt werden. Polyperspektivistische Räume tun sich auf, stehen zwei oder gar mehr Spiegel unterschiedlich angewinkelt zueinander – Räume, wie man sie gemalt kennen kann aus dem Kubismus und dem Futurismus, von Ernst Ludwig Kirchner und Ludwig Meidner.

NEBEL – LEBEN, Maurice Béjart ließ in seinem getanzten Faust Mephisto erschrecken, indem er ihm das Wort LEBEN gespiegelt, von rechts nach links gelesen vorstellte: NEBEL! Und Raimund Kummer nun, 2007, dem es in seiner Kunst immer sowohl in Form wie Inhalt um das Sehen als aktbewusstes Moment unserer Verortung geht, er verspiegelt räumlich installierend die Hängung zweier seiner riesigen Sehapparate, und erwirkt so ein potenziertes Seherlebnis, das das Sehen unweigerlich auf seine eigenen, allerdings unsicherer gewordenen Füße stellt. Denn man tappt höchst vorsichtig durch den von fünf schräg stehenden Spiegeln gegrenzten inneren Spiegelraum im Ausstellungsraum, dessen Zentrum die Glasaugen bilden. Das irritierend zu Sehende bestimmt das körperliche Sich-Verhalten. Der Boden unter den Füßen «schwimmt», das Gleichgewichtsgefühl wird gestört. Die Schritte werden unsicher gesetzt, da in den Spiegeln sich der Boden perspektivisch verzerrt und er sich auch visuell höhenindifferent spiegelt. Ein tastendes Haltsuchen wird so offensichtlich unmöglich, da die Seitenflächen Instabilität suggerieren.

In die Installation getreten kippen die vertrauten Ortogonalen des gegebenen Ausstellungsraumes optisch sowohl aus der Waage- wie aus der Senkrechten. In einem überdimensionalen Kaleidoskop wähnt man sich. Einzig die hängenden Sehapparate und der sie haltende Doppel-T-Träger geben der Mondrianschen These, dass die Welt im Rechten Winkel zur Horizontalen stabil organisiert ist, noch Unterstützung. Alles andere fluchtet, flieht, drängt. Stürzende Raumkompartimente überkommen den Betrachter in Raimund Kummers Installation – alles shifted.

Spiegelräume entstehen so – als «Spiegelräume» sind sie zu bezeichnen, um die Erweiterung gegenüber Spiegel«bildern» zum Ausdruck zu bringen. Denn ein dreidimensionales Phänomen schuf Raimund Kummer, das unendlich viele zweidimensionale Bilder sehen lässt. Die Anzahl der flächigen Bildschnitte durch Albertis Sehpyramiden ist nämlich zusätzlich zu den jeweilig einzunehmenden Betrachterstandpunkten vor einem zu sehendem Etwas noch einmal potenziert durch die Sehpyramiden, die von jedem Spiegelpunkt auf den Spiegeln ausgehend in den Spiegelraum spiegeln.

Es mag das Beschriebene dennoch gar nicht so spektakulär klingen, wie es das Erleben der Installation ist: Nun ja, Spiegel halt! Jeder hat seine Erfahrungen mit Spiegelungen, mit Täuschungen, mit Vorstellungen… Man glaubt eben schon sehr viel zu wissen. Und doch: Noch immer geht sprachgebräuchlich die Sonne auf, obwohl wir seit nunmehr 500 Jahren wissen, dass die Erde sich weg- beziehungsweise hindreht. Hingewiesen auf einen solchen Fauxpas glaubt und behauptet der Mensch im Nachhinein sogar verdächtig häufig, es dennoch schon alles gewusst zu haben. Für Hindsight Bias von Raimund Kummer mögen argumentativ vergleichbar salopp Worte gefunden werden. Der Vorwurf, sich dem genuin zu Erlebendem nicht mehr hinreichend zu stellen, um einzigartige Erfahrungen zu erlangen, wird den Ignoranten allerdings auf immer anhängen. Denn die polyperspektivischen Raumwelten, die die Kubisten und Futuristen, die Kirchner, Meidner und einige andere schon in höchst komplexe Bildwerke fassten, die gibt uns Raimund Kummer de facto räumlich und durch jeden Spiegel noch einmal in seiner Komplexität potenziert zu erfahren. Und das heißt: Abertausende Perspektiven sperren die fünf Spiegel auf. Alle zu sehen, späterhin zu erinnern und von ihnen zu wissen behaupten hieße, Sisyphos‘ Stein auf dem Berge zu halten. Welch‘ eingespiegelte Täuschung! Das gläserne Augenpaar im Zentrum des Spiegelraumes geriert sich so verstanden als das Raimund Kummers Untertitel konterkarierendes inhaltliches Moment – als zentraler Imperativ der Duisburger DKM-lnstallation: Siehe!

Raimund Stecker