Lichterfluss
06.12.2006 – 18.02.2007
Lichterfluss
Die Rauminstallation Lichterfluss von Yevgenia Safronova ist eine bloße Erscheinung, eine Vorstellung, um mit Schopenhauer zu sprechen. Denn das, was so unmittelbar mit hoher Suggestionskraft sinnlich wahrzunehmen ist, bleibt im Bereich des Unwirklichen, so wie das Kino bei allem Realismus doch nur Erscheinung ist, eine vermittelte Realität, die auf bestimmte Seinsbedingungen angewiesen ist — technische etwa, wie ein Projektionsapparat. Die perfekte Technik aber dient, hier wie dort, allein dazu, sich selbst unsichtbar und vergessen zu machen und die Beschränkung auf die Zweidimensionalität zu ignorieren.
Das bewegte Bild im Kino ist immer ein vergangenes Bild, ein unveränderlich in die Ewigkeit konservierter Bewegungsablauf. Auch Yevgeniya Safronovas Bilder sind bewegte Bilder. Die Bewegung ist aber keine aufgezeichnete, konservierte, sondern eine wirkliche, die gerade im Hier und Jetzt in Echtzeit stattfindet.
Der Vorgang an sich ist simpel: Wasser fließt über eine Glasscheibe. Diese Scheibe wird wie ein großes Dia mit Hilfe eines Autoscheinwerfers als Lichtquelle auf eine transparente Folie projiziert, die auf die Schaufenster aufgeklebt ist. Auch wenn der technische Aufwand groß ist, so ist er doch zugleich so simpel wie der Gegenstand der Projektion selbst: einfachste Physik.
Die durch die Projektion entstehenden Formkonstellationen sind durch die Veränderung der Konsistenz des Wassers mit Hilfe von Spülmittel derart gesteuert, dass nicht Tropfen über das Glas laufen, sondern Schlieren entstehen, ein Flüssigkeitsfilm, der permanent aufreißt oder sich schließt, ein gesteuerter Zufall. So können die Figurationen und Formationen des auf der Scheibe fließenden Wassers nicht im Detail vorherbestimmt werden. So wie bei Jackson Pollock und seinem «dripping»Verfahren auf waagerecht liegender Leinwand, die Zufälligkeit des Farbflusses bewusster Bestandteil der Bildstrategie ist. Morris Louis lässt die Farbe dagegen auf der senkrechten Leinwand von oben nach unten zwar richtungsbestimmt, aber doch auch Zufallsmomente einkalkulierend sich ergießen.
So zeichnet bei Yevgeniya Safronova das Wasser gleichsam von selbst seine Spuren und Linien, ohne dass das Bild je zu einem Ende käme. Dem Zuschauer eröffnet sich ein Vorgang, der einfach genug ist, um Versenkung in das immaterielle Geschehen zu ermöglichen und zugleich ausreichend komplex, um nicht bloß banal zu sein.
Zeitliche Unmittelbarkeit korrespondiert mit materieller Vermitteltheit. Der Wasserfluss kann als solcher gar nicht erlebt werden. Man sieht den Bewegungsfluss nicht selbst, sondern nur sein unmittelbar wirksames, gleichermaßen bewegtes Abbild — man wird nicht nass, wenn man die Projektionsscheiben berührt. So entsteht ein gleichsam magischer Spannungsbogen zwischen direkt und indirekt, zwischen Wirklichkeit und Bild. Dies eröffnet weitere Assoziationen. Der Wasserfluss wird zum Lichterfluss, aber auch zum Schneegestöber oder zum Flammenmeer.
Der Raum mitsamt der ihn umgebenden Architektur gerät ins Unsichere. Er löst sich auf und ist nur ein im Verschwinden begriffenes Behältnis eines höchst dramatischen Geschehens, das seine Wirkung keineswegs auf die architektonischen Grenzen beschränkt, sondern sich in den Außenraum ausbreitet. Die Projektionsfläche ist zur Membrane zwischen Innen und Außen, zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden. Leuchtend und somit von einem Inneren zeugend, gibt sie dieses doch nicht preis und verbreitet sich im öffentlichen Raum, jenseits der architektonischen Grenze.
So ist dieses Spiel von Erscheinung und Dinghaftigkeit, von Oberfläche und Tiefe, von Zufall und Bestimmtheit neben dem bloß ästhetischen Spiel auch ein Sinnbild für den Fluss des Lebens, ein zyklisches Geschehen in der Natur und im menschlichen Leben, aber auch eine Metapher für Endlosigkeit und Unwiederholbarkeit.
Ferdinand Ullrich