Momentanea Mens

VITTORIO MESSINA

06.03.2009 – 21.06.2009

Zur Ausstellung ist ein Booklet mit Texten von Vittorio Messina und Uwe Gellner sowie Fotografien von Werner J. Hannappel erschienen.

Vittorio Messina, Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J. Hannappel

Momentanea Mens

Jahreszeitliches Grau lässt auch tagsüber helles Neonlicht durch die Reihe der vier großen Sichtscheiben nach außen dringen, welche die Gebäudefassade markant gliedern und für den Blick hinein öffnen. Der Innenraum zeigt sich in geordneter Symmetrie. Gleich hinter den Scheiben, zentral in der Mitte, wurde ein weißes viereckiges Bauwerk errichtet, kaum größer als eine Raumzelle. Es besitzt jeweils zwei Fensteröffnungen nach vorn und hinten, sowie quer einen Durchgang. Im Abstand dahinter, an die Rückwand des Ausstellungsraumes, wurde ein durchgehender Fries von Wandvorlagen angebracht, auch dieser ist weiß. Aus der Nähe erkennt man richtiger, dass es sich um eine Reihe von 14 Nischen handelt, an diesem Ort fraglos überbesetzt mit ebenso vielen Pissoirbecken. Spätestens mit dieser Feststellung beginnt die Sicht des Gewohnten zu wanken, die Dinge werden uferlos und verlieren ihre begriffliche Autorität.

Denn wo beginnen und wo enden Kunst und Architektur, Innenraum und Außenraum, Intimität und Öffentlichkeit, Provisorium und Ordnung? Die baulich klare Situation erweist sich als rätselhaft unsicher mit widersprüchlichen Seiten, die sich im hellen Licht ihrer Betrachtung ungezwungen überlagern und wieder trennen. Dieses Wandelbare vollzieht sich fortwährend, täglich 24 Stunden weiß ausgeleuchtet, so dass sich keine Seite aus dem gemeinsamen Bild stehlen kann. Aber welcher Sinn steckt dahinter?

Vittorio Messina lebt bei Rom. Kaum ein anderer Schauplatz bietet ein solch umfassendes Bild der Inszenierung von Zeit und Veränderung wie die «tausendjährige Stadt». Römische Bauten und Ruinen sind Archive voller Auskünfte über das Leben, auf ihren Fassaden und in ihren Räumen äußert sich die Geschichte. In dieser Hinsicht hat die Entscheidung von Vittorio Messina, sich architektonischer Ausdrucksmittel anzunehmen und Gasbeton zu verwenden, diesem simplen modernen Baustoff Sinn und Auskunft anzuvertrauen, nichts Außergewöhnliches. Man könnte annehmen, es wäre aus der Sicht alltäglicher Gewohnheiten dazu gekommen. Neben Gasbetonblöcken, Bauhölzern, Wellblech, Schraubzwingen, können es ebenso Pflanzkübel, Neonleuchten, Kabel, Regenschirme, hin und wieder Sanitärkeramik, sein, zuweilen integriert er Texte, Farbfolien, die das Licht verändern, TV- oder Videoprojektionen. Die meisten dieser Materialien nutzt Vittorio Messina seit Jahren, das deutet auf Vorlieben für Eigenschaften, wie ihre Unvoreingenommenheit als künstlerisches Material oder ihre Bindung in die Normalität des Lebens. Vittorio Messina verwendet sie in einer architektonischen Praxis, welche gegenständliche Konstruktionen mit gedanklichen Konstruktionen verbindet. Geleitet von persönlicher Intuition und Erfahrung, alles andere als im üblichen Gebrauchssinn nutzbar, werden sie zu Vokabeln einer individuellen Bildsprache über das Bauen und über das Leben in den Häusern, über die Gegenwart und über die Geschichte von Urbanität.

Indem Vittorio Messina der Einladung der Stiftung DKM folgt, stellt er sich einer besonderen Situation. In Zeichnungen hat der Künstler seine Pläne entwickelt und geprüft. Präzise reagiert er auf die Lage und Geometrie des Ausstellungsraumes, Voraussetzungen und Ergänzungen korrespondieren als handele sich nicht um ein ausgestelltes Kunstwerk, sondern um eine Baustelle dauerhafter Einbauten. Dies zumindest täuscht der Eindruck vor, wenn man sich dem Schauraum der Stiftung DKM von Ferne nähert. Vermutlich ist es gerade die urbane Schwellensituation der geöffneten Wand, der fehlenden visuellen Trennung zwischen dem Innenraum für Kunstprojekte und dem Außenraum der Stadt, diese Sowohl-als-auch-Situation, die ihn interessiert, in die er sich hinein bewegt. Zusammengesetzt aus dem baulichen Vorsprung des Mittelbaus und dem bandförmig rhythmisierten gesamten Hintergrund des Ausstellungsraumes drückt sich die Ansicht visuell von innen nach außen durch die Sichtscheiben als eine Art von zentrierter Gebäudefassade. Sie erfüllt ein architektonisches Schema von Ordnung und Repräsentation — wenn es sich um Architektur handeln würde und nicht um die «vorübergehenden Gedanken» Vittorio Messinas.

Giambattista Vico (1668 — 1744) dessen Erkenntnisse über den Zyklus des Auf- und Niedergangs von Zivilisationen ihn heute zum Begründer der Kulturwissenschaft erklären, hatte in seiner enzyklopädischen Schrift Scienza Nuova das Wort für den Ort (locus) aus dem Wort für Licht (leucos) abgeleitet. Das könnte den Leichtsinn der Behauptung von Repräsentation an diesem gebauten Ort begründen, die fragwürdige Konstruktion und das Inventar der Zelle oder vielleicht Cella, deren bei Nähe betrachtet lose geschichteten Gasbeton, der mit Schraubzwingen zusammen gehalten wird, die drei Regenschirme an der Stelle der fehlenden Decke, die auf dem Fußboden abgestellten leeren Blumenkübel, einigen Kleiderbügel gebogen aus dünnen Neonröhren, usw. Im hellen Licht des Raumes und all dem Weiß wird die Realität der Bauten und der darin enthaltenen Asservate nicht nur verdeutlicht sondern überstrahlt, sublimiert und in eine imaginäre Vielschichtigkeit von Sprache und Bedeutung übertragen. Ursprünge solcher Verwandlungen lassen sich vielleicht in den

Instrumentarien antiker Tempelkulte oder auch in den Attributen des Martyriums mittelalterlicher Heiligendarstellungen wieder finden. Hier jedoch ist der Bogen assoziativer Gedanken «momentan» oder gegenwärtig, und zieht sich z.B. von den vielen Pissoirs zu den drei farbigen Regenschirmen durch ihre horizontal gespiegelten Bogenformen und Funktionen, welche den Kreislauf von Wasser assoziieren, um die Gegenstände zu durchströmen und damit verbunden auf den Fluss der Dinge in allem zu verweisen. Daneben zitiert Vittorio Messina beiläufig einen kunstgeschichtlich legendären Akt von Marcel Duchamp, das ready made eines Pissoirs, das den Übertritt in die Kunst vollzieht und hier rückgeführt in die Illusion von Realität erscheint, welche denselben Schritt vollzieht. Dass Vittorio Messina drei Regenschirme in den Grundfarben verwendet, die das Prinzip des Farbfächers bilden, führt zum Ausgangspunkt der Möglichkeiten aller anderen Farben und sozusagen auch alles Sichtbaren. Bleiben z.B. die trostlosen Blumentöpfe aus Industriekeramik oder die rätselhaften Kleiderbügelkreuze, deren Licht unter der Kleidung verschwinden würde. Jede Auslegung bleibt fraglich und offen, irgendwie sind die Dinge durch den künstlerischen Prozess aus dem Wortsinn ihres Ursprungs weiträumig entfremdet, in einer neuen Sprache zurückgekehrt.

James Joyce entwickelte die Grundstruktur von Finnegans Wake in Kenntnis von Vicos Scienza Nuova. Joyce schrieb: „My imagination grows when I read Vico as it doesn’t when I read Freud or Jung.“ In Finnegans Wake entstand eine eigene Sprache, indem Joyce Wörter neu zusammenfügte, umbaute, trennte oder auch mit bis zu einhundert anderen Sprachen mischte. Das Ergebnis entzieht sich einem linearen Verständnis des Textes und eröffnet zahllose Interpretationswege. Vittorio Messina bekennt seine Sympathie für die nahezu irrationale Sprachfähigkeit des irischen Schriftstellers und hat sich bereits in früheren Arbeiten auf Finnegans Wake bezogen, durch eine vergleichbare Konstruktion und Handhabung von einer Poetik der Dinge in seiner Kunst, welche er aufbaut und umbaut, trennt und neu zusammensetzt.

Wir leben gebunden in die Häuser, die wir errichten, unsere Lebensweise illustrieren die Räume, in denen wir uns aufhalten. Diese sind Bestandteil der Ortschaften und Städte, und wiederum gebunden in die Regionen und Landschaften und so ergibt sich die Verantwortung unseres Lebens für die Welt. Vittorio Messina nennt seine Installation Momentanea Mens, in diesem Titel begegnen sich das italienische Wort für momentan und das lateinische Wort für die Gedanken. Mit dem Titel verflüssigen sich die Dinge und es bleibt ein Nachgeschmack von weißer Kälte in den Räumen, desorientiert darüber, wo wir uns zukünftig aufhalten werden. Was wird aus den Städten und wie verändern sie sich, wenn das Poetische aus ihnen und aus dem gemeinschaftlichen Leben seiner Bewohner schwindet? Und verliert die Stadt dann auch ihre Architektonik? In vielen bisherigen Werken hat Vittorio Messina die vorhandene Ordnung der Räume durch Asymmetrien unterlaufen und destabilisiert. Mit der symmetrischen Grundordnung von Momentanea Mens erweitert er seine Methode. Man könnte das als eine Reaktion auf den Ort der Ausstellung und das Duisburger Hafengebiet deuten, auf dessen strukturelle Transformation ins Idealische oder in den Stadtraum der Zukunft.

Uwe Gellner