Schwarze Werkzeuge
29.09.2018 – 17.03.2019

Leere Hände
„Gehirne ohne Hände! Die nur von oben herab, von weither, und immer mit Verzögerung über die Vielzahl der Hände ohne Gehirn richten, die unermüdlich zum Wohle der Welt arbeiten, die vielleicht dessen völligen Verlust erleiden, wenn nicht den Verlust von allem. (…) Man sagt, ein paar denken und andere führen aus! Aber die wahre menschliche Bestimmung ist es, mit den eigenen Händen zu denken.“
Denis de Rougemont, Penser avec les mains, 1936
Hinter der strengen formalen Reduktion verbirgt sich eine scharfe Kritik neoliberaler Weltanschauung und der Konsequenzen, die ihre Durchsetzung gegenwärtig hat. Um Patrick Hamiltons Arbeit zu entschlüsseln, muss man sie in dem raumzeitlichen Kontext verorten, aus dem sie hervorgegangen ist.
Der chilenische Künstler wurde 1974 geboren, ein Jahr nach dem von General Auguste Pinochet geführten Putsch, der die demokratische Regierung unter SalvadorAllen de stürzte. Seine Jugend war geprägt von einer spannungsgeladenen Atmosphäre und der Herrschaft einer gewalttätigen Diktatur, die 16 Jahre lang andauerte und in deren Verlauf mehr als 3.000 Menschen getötet oder verschleppt wurden. Im Jahr 1990 wurde Hamilton Zeuge des Regimeendes, eines zeitgeschichtlichen Moments, nach dem nur wenige politische Ideale verblieben und es den Anschein machte, als hätten Utopien ihre impulsgebende Wirkung ein für alle Mal verloren.
Vielleicht ist es gerade als Reaktion auf diese gesellschaftliche Lage zu verstehen, dass der Künstler den Geschehnissen um ihn herum niemals apathisch gegenüberstand. Im Gegenteil, er blieb in engem Kontakt zu den Menschen, die, nach Jahren im Exil, in das Land zurück kehrten und sich der Aufdeckung der diktatorischen Verbrechen verschrieben. Diese Stimmung beeinflusste seinen Werdegang maßgeblich. Dennoch entschloss er sich dazu, den Schwerpunkt seiner Arbeit nicht auf die Zeit der Diktatur zu legen, sondern die Auswirkungen der radikalen wirtschaftlichen Reformen, die unter dem Kabinett Pinochet eingeführt wurden, auf das heutige Chile zu problematisieren. Reformen die, unter anderem, einen möglichst schlanken Staat und die Privatisierung der Sozialhilfe, des Gesundheitswesens und des Bildungssektors zum Ziel hatten.
Um die Widersprüche und die Spaltung der chilenischen Gesellschaft und der Welt als Ganzes auf metaphorische, subtile Weise in den Vordergrund zu rücken, greift Hamilton auf ein reduziertes Vokabular bereits vorhandener Formen und Materialien zurück. Hamilton beginnt auf der Mikroebene, um die Makroebene anzusprechen. Indem er Techniken des Collagierens, der Wiederholung und Neuanordnung anwendet, verleiht der Künstler den Komponenten dieses Vokabulars, das aus Sandpapier, Maurerkellen und anderen Werkzeugen besteht, eine neue Bedeutung. Diese entstammen größtenteils den Bereichen des Handwerks und der Bauindustrie. Mit diesen Mitteln schafft er spannungsgeladene und vieldeutige Situationen, sowohl zwischen den einzelnen Bestandteilen, als auch in ihrer Beziehung zum Raum, die illustrieren, dass instabile, unfaire, gewaltsame oder gestellte Verhältnisse allgegenwärtig sind.
In der Vielschichtigkeit von Santiago de Chile und darüber hinaus sucht er nach den Materialien, die er benutzt, um seine Projekte zu entwickeln. Städte übernehmen, als eines der hauptsächlichen Territorien seiner Forschung, die Funktion eines erweiterten Studios. Dort begegnen ihm die zahlreichen Widersprüche, die ein neoliberales, hegemoniales und unfaires ökonomisches System hervorbringt: hohe Arbeitslosenquoten, informelle Arbeit, die verspiegelten Fassaden der Wolkenkratzer, in denen die Büros multinationaler Konzerne und Finanzunternehmen sitzen, prekäre Lebensumstände und die zunehmende Verbreitung der Abschirmung dienender Architektur, von Segregation, Überwachung und Ausschlussmechanismen. Der Künstler nimmt das alles wahr, verarbeitet es, um es schließlich zu Werken zu synthetisieren und umzuwandeln, deren hauptsächliche formale und konzeptuelle Referenzen die sowjetische Avantgarde und das Bauhaus sind, für die Kunst ein emanzipatorisches Bildungswerkzeug war.
Drei Jahre lang ist Hamilton kreuz und quer durch den Stadtkern der chilenischen Hauptstadt gezogen und hat die verschiedenen Aufbauten fotografiert, die auf Dreirädern befestigt werden, um Essen zu verkaufen, Waren zu transportieren, Güter auszuliefern usw. Daraus resultierte ein Bestand von mehr als zweihundert schwarz-weiß Fotografien, die von dem Improvisationstalent und der Kreativität zeugen, die den informellen Sektor in Krisenzeiten entscheidend prägen.
Vervollständigt wird das „Projekt“ von einem echten Dreirad, das der Künstler selbst ummodeliert hat, und einer Tapete, die mit einem graphischen Muster, das Marmor imitiert, bedruckt ist. Das modifizierte Dreirad beinhaltet einen Bildschirm, auf dem ein großformatiges Foto des Viertels Sanhattan zu sehen ist, dem Finanzdistrikt Santiagos, dessen Name von dem New Yorker Bezirk inspiriert wurde. Die Tapete schließlich bedeckt, hundertfach vervielfältigt, eine gesamte Wand des Ausstellungsraumes.
Die dreiteilige Arbeit bildet somit ein zweiseitiges Portrait der chilenischen Hauptstadt: einerseits eine Welt der Oberfläche, des Luxus und der traumhaften Bilder, auf der anderen Seite die bittere Realität derer, die sich zunächst um ihr eigenes Überleben kümmern müssen. Der Titel Santiago dérive [Durch Santiago schweifen] (2006–2008) ist ein Wortspiel, das sich sowohl auf die Praxis des Künstlers, durch die Straßen zu schweifen, bezieht, als auch auf die Möglichkeit, zwei voneinander abschweifende Bilder Santiagos zu sehen: von dem abgehobenen, für viele unerreichbaren Standpunkt der Freizeit- und Postkartenmotive aus oder demjenigen derer, die erkennen, was dahinter steckt: die Arbeiter, die mit ihren Karren umherschweifen, ohne jede Absicherung, ohne Rechte und ohne eine greifbare Möglichkeit, auch nur gesicherte Lebensumstände zu erreichen.
Für Hamilton sind Arbeit und die Prekarisierung dieser entscheidende Themen. Er hebt die Folgen der technischen und ökonomischen Entwicklungen hervor, die zur Flexibilisierung von Arbeiterrechten, dem Aussterben diverser Berufe und insbesondere zur zunehmenden Abwertung handwerklicher Arbeit geführt haben. Hamilton benutzt kalte, harte, metallische Schneidewerkzeuge, um diese Tätigkeiten am unteren Ende der sozialen Pyramide darzustellen, die einen Kontrast zum warmen, biegsamen, organischen menschlichen Körper bilden. Arbeiter, oder ihre geschickten Hände, tauchen in seinen Arbeiten niemals auf. In ihrer Unsichtbarkeit werden diese Hände schließlich zu einer Metapher für den Grundstein des klassischen Liberalismus, der Mitte des 18. Jahrhunderts von Adam Smith aufgestellten Theorie der „unsichtbaren Hand“, die den Markt und die Wirtschaft regulieren würde.
Es ist interessant, dass kaum Spuren der Handbewegungen, die Hamilton während der Produktion seiner Arbeiten ausführt, wahrnehmbar sind. Den Moment der Überraschung, wenn man zum ersten Mal ein abstraktes Bild von Mondrian in vivo sieht und dort Fehler und Makel erkennt, gibt es hier nicht. Die geometrischen Kompositionen des chilenischen Künstlers sind nicht nur extrem düster, sondern auch makellos, ordentlich, präzise und geradlinig. Als müsste er mit maschinenhafter Präzision und Distanz arbeiten, um von einer Welt zu erzählen, die mit Schweiß und Anstrengung von Menschen geschaffen wurde.
Die Arbeiten aus der Serie Pinturas abrasivas [Sandpapier Malereien] (2014–2018) bestehen aus Dutzenden, auf eine Leinwand geklebten Sandpapieren, die von Malern verwendet werden, um Unebenheiten zu beseitigen. Dem Muster eines orthogonalen Rasters folgend, erinnert die Komposition an Backsteinwände, Bürgersteige oder Fußböden. Es sind urbane Gewebe, die der Logik und den Bedürfnissen der Bauindustrie folgen.
Aus der Ferne erinnert das zweidimensionale Rechteck, das die Reihe von Sandpapierarbeiten bildet, an abstrakte, monochrome und gleichförmige Werke wie beispielsweise die schwarzen Bilder Frank Stellas, mit konzentrischen Linien und Streifen in schwarzer Lackfarbe auf unbehandelter Leinwand. Nur wenn man näher an Hamiltons Arbeit herantritt, ist es möglich, die raue Textur und den leichten Schimmer des alles andere als vornehmen Materials wahrzunehmen. Ursprünglich ein Werkzeug, das als Hilfsmittel bei Malerarbeiten verwendet wurde, erlangt das Sandpapier nun einen anderen Status, indem es Kunst wird und der Wand jetzt seinen Rücken zukehrt. Hinter dem Bild steckt eine implizite Kritik der prekären Arbeitsbedingungen in Handwerksberufen, die sich in der rauen Oberfläche des Sandpapiers darstellt, das die Hände der Arbeiter verletzt und einschneidet. Genau wie die Divergenz zwischen einem Kunstmaler und einem Wandmaler.
Auf dem Boden des Ausstellungsraums liegt die Arbeit Red and Black Sun II (2018), ein Kreis, der von Seite an Seite platzierten Maurerkellen gebildet wird. Bemalt in der rot-schwarzen, durch einen Schrägstrich getrennten Flagge des Anarchosyndikalismus, repräsentieren die Maurerkellen die neuen, Licht und Wärme versprechenden Möglichkeiten, die entstehen, wenn sich die Arbeiter in einem Kampf gegen Klassenprivilegien und für sozioökonomische Gerechtigkeit zusammen schließen. Angeordnet in einem Kreis erinnern die Werkzeuge an die Zusammenkunft eines Gremiums, das politische Entscheidungen trifft. Die nach außen zeigenden Griffe der Maurerkellen wirken wie Mikrofone, die dem Volk und den Arbeitern eine Stimme verleihen.
Bereits im Jahr 1936, als die republikanischen Parteien in Frankreich und Spanien die Wahlen gewannen, verteidigte Denis de Rougemont diejenigen, die auch mit den Händen denken. Im Kontext gegenwärtiger Entwicklungen, in denen die Demokratie, das Streben nach Gerechtigkeit und nach Freiheit einmal mehr gefährdet sind, ist es mehr denn je geboten, sich an Rougement zu erinnern und die Worte des großen brasilianischen Poeten Carlos Drummond de Andrade hinzuzufügen: „die Gegenwart ist so unermesslich weit, lasst uns nicht getrennt bleiben. Lasst uns nicht zu weit voneinander entfernt bleiben, lasst uns Hand in Hand gehen.“
Isabella Lenzi, Oktober 2018
Raum 3
Die einander entgegengesetzten Arbeiten Escape to Paradise aus dem Jahr 2004 und das eigens für die Ausstellung angefertigte Werk Black Frame (2018), haben offenkundige, formale Unterschiede, stehen aber in enger konzeptueller Nähe zueinander.
Die Arbeit Escape to Paradise bedient sich formal eines leicht erkennbaren Alltagsgegenstands, der Schweißermaske und deren Manipulation durch Fotos. Dem Gegenüber der Black Frame aus handelsüblichen Stahlsegmenten, die in Chile auf Mauern platziert, Privatbesitz schützen soll. Auf dem konzeptuellen Level bezieht sich Escape to Paradise auf heutige Arbeitsbedingungen, die Träume und Hoffnungen mit Frustration und Melancholie vermengen. Der minimalistische Black Frame seinerseits spricht auf eine sinnliche, stille Art von Grenzen, Trennung und Ausschluss.
Beide Arbeiten können als Allegorien der aktuellen Lebensbedingungen, der ökonomischen und sozialen Prozesse verstanden werden und unserer Vorstellung
des Möglichen Grenzen und Rahmen setzen.
Patrick Hamilton, Januar 2019