Seit Jahrmillionen

CHRISTIANE MÖBUS

31.10.2008 – 22.02.2008

Zur Ausstellung ist ein Booklet mit einem Text von Raimund Stecker und Fotografien von Werner J. Hannappel erschienen.

Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J. Hannappel

«Das Ausstellungsprojekt, bestehend aus zwei Granitwalzen und ca. 200 bis 300 Rehgehörnen, ist wie eine Zeitreise. Sie beginnt mit der Entstehung der Erde und lässt uns so weit einen Blick in die Zukunft wagen, wie wir die Vergangenheit respektieren.
Der gesamte Prozess der Entwicklung unserer Erde wird mit der Entstehung des Granits als Tiefengestein in der Gegenüberstellung mit Relikten von Lebewesen, den Gehörnen von Rehwild, umrissen.
Das Reh- wie auch das Rotwild, markante Tiere in unseren Breitengraden, haben sich als Kreatur ihre Eigenheiten erhalten können, auch wenn es viel Auf und Ab im Zusammenleben von Mensch und Tier in unserer enger werdenden Kulturlandschaft gegeben hat und gibt.
Der Titel Seit Jahrmillionen lässt eine stetige Entwicklung anklingen, für die die perfekte Zylinderform der Granitwalzen wie ein Zeitmaß wirkt.
Der Stein ist Zeuge von unermesslichen Dimensionen und bewahrt trotz umfangreicher und anhaltender wissenschaftlicher Erkenntnisse einen Fundus von Geheimnissen in sich.
Immer deutlicher wird dem Menschen, dass die Zukunft auch eine Herkunft hat.»

Christiane Möbus

Seit Jahrmillionen…

Inhaltlich nicht Zusammenhängendes durch ein Kunstwerk in einen wahrnehmbaren, einen ästhetischen Zusammenhang zu binden, das hat eine weit, wenn auch nicht Jahrmillionen zurückreichende Tradition in der Geschichte der bildenden Kunst. Nichts (mehr) miteinander zu tun habende Menschen sitzen beispielsweise in Edgar Degas’ «Absinth» aus dem Jahre 1875/76 in einem hoch komplex ausponderierten Bildgesamt kompositionell vermeintlich (noch immer) vereint beieinander[i]. Doch die Bildharmonie findet keine Entsprechung in der dargestellten Szene. Fraglos ist so die Nichtkommunikation zwischen den beiden nur noch nah beieinandersitzenden Personen Thema des Bildes. Noch aber ist die Disparität im Szenischen nicht konstitutiv für die ästhetische Form. Noch, da die Etablierung des Collageprinzips eben zum Ende des 19. Jahrhunderts hin noch nicht vollzogen ist – also des Prinzips, das inhaltlich Unzusammenhängendes auch kompositionell unzusammenhängend in eine artifizielle Ganzheit zu binden und so in unser Bewusstsein zu implantieren vermag.

Christiane Möbus gibt sich selbstverständlich mit dieser historischen Form der Darstellung von Unzusammenhängen und Widersprüchen nicht mehr zufrieden – und das von Beginn ihrer künstlerischen Tuns an (Anm.2).[ii] Vielmehr sucht sie den Betrachter immer in gleichsam collagierte Unzusammenhänge hineinzustellen – ja, ihn im Laufe ihrer Werkentwicklung sogar immer evidenter in die Tatsächlichkeiten von Unzusammenhängen zu verorten.

So geschieht es auch in ihrer Installation Seit Jahrmillionen. Draußen, im Außenraum vor der Fenstergalerie (Galerie DKM), lagern zwei Steinwalzen mit Halterungen. Steinwalzen, die zuvor vermutlich einmal in einem Kalander einer Papiermaschine die Glättung von Papieroberflächen verantworteten, mit Halterungen, die mit ihrer Seitenansicht dem Kunstinteressierten durchaus die Dynamik der revolutionären Viadukte Paul Klees vor das innere Auge projizieren. Aus Granit bestehen diese Walzen. Länge 8m. Durchmesser 1,10m. Gewicht 26t. Drinnen, hinter den Fenstern der Galerie, sind hunderte Rehgehörne installiert. Sie entstammen sowohl bürgerlichen wie adeligen Jagdtrophäensammlungen. Einzelne Gehörne sind mit Adelswappen signiert, einigen die Kiefer der ge-, oder besser: erschossenen Tiere beigegeben. Viele sind sogar auf den Rückseiten der Haltetäfelchen bezeichnet und so bis ins Ende des 19. Jahrhundert zu datieren.

Auf den ersten Blick Gefallenen auf Soldatenfriedhöfen gleich, hat Christiane Möbus die Gehörne auf die Wand in «Reih und Glied» gehängt. Eine Ordnung hat sie den Trophäen somit aufgezwungen, die zum einen in einem profunden Widerspruch steht zu den Verhaltensweisen der Tiere, denen die Gehörne einst gehörten, und zum anderen zur gewachsenen Individualität der Gehörne, wie sie sich uns heute zeigt. Doch genau um diese Individualität geht es Christiane Möbus offenbar, geht es ihr offen-sichtlich. Denn nicht ein simpel strukturiertes Gehörn-all-over finden wir in der Duisburger Installation, eines, das sich in einer stakkatohaften Gleichförmigkeit erschöpft, die dem einzelnen Teil mithin nur die Bedeutung eines untergeordneten Teils zukommen lässt (der Soldat auf den Grabfeldern der Gefallenen). Vielmehr finden wir uns in “Seit Jahrmillionen“ vor einer Zeugnis-Sammlung von Individualitäten, deren einzelne Sammlungsstücke von Christiane Möbus so in eine jeweilige Distanz zueinander gerückt sind, dass die Betrachter stets zu einem Begegnen mit einem Einzelnen, eben einem Individuum veranlasst werden.

Fragil wirkt so jedes für sich und eben individuiert wie ein Fingerabdruck. Offensichtlich zerbrechlich in ihrem jeweiligen Jetztzustand, scheinen die Trophäen so zurückzuverweisen auf das geschichtliche Ausgeliefertsein, dem das jeweilige Lebewesen in Konfrontation zu einem jeweilig anderen, final stärkeren Lebewesen ausgesetzt war. Nicht kalt kann einen diese Nähe und Individuation von Getötetem lassen – von Getötetem nicht zuletzt um Jägererfolg zu demonstrieren.

Und die monumentalen monolithischen Steinwalzen draußen? Formal mag ihnen die Bedeutung eines massiven Kontergewichtes zum verblichen Sensiblen zukommen. Und auch die hoch sensible Glätte der zu erfühlenden Oberfläche mag den vergleichenden Blick auf Verletzbarkeit wenden. Doch ein über das gestiftete Zusammensein hinausgehender Zusammenhang mag auf den ersten Blick nicht aufscheinen.

Unzusammenhängendes wird in dieser Installation von Christiane Möbus also fraglos in seinem Unzusammenhang gelassen. Müssen in der Chemie die Elemente miteinander “harmonieren“, soll ein neues Molekül kreiert werden, und müssen auch im soziologischen Gruppenzusammenhang Harmonien gebildet werden, will man von einer Gruppe sprechen, so ist offensichtlich die Kunst all diesen Harmonienotwendigkeiten ledig. Hier reicht ein kontingentes Nebeneinander von Unzusammenhängendem, um aufscheinende Synthesen zu denken – mithin um Sinnzusammenhänge aufscheinen zu lassen.

Unterstrichen wird diese künstlerische Denkungsart von Christiane Möbus dann noch dadurch, dass sie ihre Installation unter den Titelhorizont “Seit Jahrmillionen“ stellt. Sie formuliert also eine künstlerische Setzung, die auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragt werden möchte. Seit Jahrmillionen existiert der Granit der Steinwalzen, und niemand weiß, welches mögliche Geheimnis sich unter seiner Oberfläche verbirgt. Seit Jahrmillionen existieren Lebewesen, deren Zeugnisse uns nicht überkommen sind, da sie nicht gesammelt wurden. Seit Jahrmillionen gibt es unzusammenhängende Koexistenzen, die womöglich viel zusammenhängender sind, als wir es wahrzunehmen bereit sind. Seit Jahrmillionen

Seit kurzer Zeit erst befinden sich die Rehgehörne und die Kalanderwalzen in der von Christiane Möbus gestifteten, nunmehr fraglosen Ganz- und gänzlich unveränderbaren Einheit. Nichts ist zu verändern, das Ganze seinem unikatären Nur-Jetzt- und Nur-Sosein geschuldet. «Bei unmittelbar Begegnung von toter und lebendiger Materie», so merkt Christiane Möbus an, «hätte eine Konfrontation wahrscheinlich zerstörerische Wirkung gehabt». Aber dann wäre es auch keine Arbeit von ihr. Denn stets setzt sie bewusst Materialien, ihren Materialeigenschaften gemäß, auf die ihnen je eigenen Spuren – «zeit- und parallelverschoben, der Entwicklungsgeschichte unseres Planeten und seiner Bewohner entsprechend», wie sie sagt. «Einem, der sich einem winzigen Moment, einem Nu verdankt – also einem einer nur jetzt und so existierenden Konstellation, deren Ansicht wir Betrachter Zeuge werden.

Raimund Stecker

 

[i] Imdahl, Max; Eduard Manets «Un Bar aux Folies-Bergère» – Das Falsche als das Richtige. In: Max Imdahl Gesammelte Schriften, Band I; Frankfurt a.M.; 1996, S. 497ff.
[ii] Strauss Thomas; “Plastiken der anonymen Erfahrung“. In: Christiane Möbus – Plastiken; Katalog zur Ausstellung im Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg; 1981, S. 7ff.