Spatien

KATHARINA HINSBERG

01.07.2011 – 24.10.2011

Zur Ausstellung ist ein Booklet mit einem Text von Heike Baare und Fotografien von Werner J. Hannappel erschienen.

Ausstellungsansicht Museum DKM
Foto: Werner J. Hannappel

spatien

«Zeichnen kann wie regnen beginnen», schreibt Katharina Hinsberg in einem ihrer lyrischen Texte über das künstlerische Medium, das sie seit ihrer Akademiezeit wie kein anderes beschäftigt.1 Unter dem Titel spatien (Raum oder Zwischenraum) lässt sie seit dem 1. Juli 2011 rotorangefarbene Lineaturen von der Decke eines Ausstellungsraums im Museum DKM prasseln, feine Streifen aus Seidenpapier, die sich am Boden sammeln und ausleuchtend wolkigen Anhäufungen wieder zur Decke emporwachsen. In unregelmäßigen Abständen und unterschiedlich dicht fallen die Striche zu Boden, sie bilden Vorhänge oder öffnen vertikale Durchlässe. Der Besucher, der seinen Weg durch die von der Decke regnenden Fäden und am Boden liegenden Papierberge sucht, versetzt das zarte Gespinst in tänzerische Bewegung, vielleicht absichtsvoll durch den eigenen Atem verstärkt, was die Anmutung natürlichen Wachsens oder Fließens unterstreicht. Die Betrachterwahrnehmung springt zwischen einzelnem Papierstreifen und dem Gesamteindruck des Raums hin und her, zwischen Detail und chaotischer Fülle. Die leise wogende Bewegung des Materials und das zarte Rascheln rufen Erinnerungen an Natureindrücke wach, lassen Vegetabiles oder Organisches assoziieren. Filigrane Lineaturen, die sensibel und verletzlich wie Nervennetze, Fühler oder Sensoren auf ihre Umgebung reagieren.2

Das unsichere und scheinbar zufällige Gespinst ist unter den Vorbedingungen einer analytisch systematischen Vorgehensweise entstanden: Seidenpapier wird maschinell in fünf Millimeter feine Streifen zerschnitten, ein noch feinerer Schnitt wäre technisch nicht möglich. Jeder Streifen ist 70 cm lang. Die Flächensumme des verwendeten Papiers, 103,73 m², entspricht der Grundfläche des Ausstellungsraums. Vor Ort wird das aufgehäufte, geschnittene Papier Faden für Faden zur Decke geführt, wobei die einzelnen Streifen an ihren Enden miteinander verklebt werden. Wie sie die geschnittenen Lineaturen hängt und wann dieser Vorgang abgeschlossen wird, entscheidet die Künstlerin erst während des Arbeitsprozesses. Das subjektive Moment bestimmt über die Beendigung der einem präzisen Konzept folgenden Ausführung. Auf den Abschluss der Installation können aber auch äußere Umstände wie der Zeitpunkt einer Ausstellungseröffnung Einfluss nehmen, während es weniger ein Zustand der «Vollendung» ist, der hier den Ausschlag gibt. Für die Künstlerin ist von dem Augenblick an, in welchem Sie das Material im Raum verteilt und mit ihrer Tätigkeit beginnt, jedes Stadium der Arbeit gleichwertig und für sich genommen ein «vollendet unvollendetes Bild». Ein objektiv messbares Ende des Vorgangs könnte nur dann erreicht werden, wenn das gesamte Material verarbeitet und somit das vollständige Flächenvolumen in den Raum überführt wurde. Die Installation ist folglich prozesshaft und bleibt, da Veränderungen durch Betrachter oder Materialermüdung durchaus einkalkuliert sind, immer im Wandel begriffen.

Es ist weniger die Zeichnung in ihren traditionellen Funktionsweisen, mit der sich die Künstlerin Katharina Hinsberg auseinandersetzt, als vielmehr die Linie, die sie in ihren grundsätzlichen Eigenschaften und Ausdrucksmöglichkeiten reflektiert und die sie auf verschiedenste Art aus ihren Beschränkungen befreit. Die von ihr verwendeten Materialien und Techniken sind jedoch denkbar schlicht und zeugen für sich genommen noch nicht von der transformierenden Qualität ihrer künstlerischen Vorgehensweisen: Sie zeichnet, schneidet, heftet oder klebt Papier, gerne in handelsüblichen DIN-Formaten, wobei sich ihre Farbpalette weitestgehend auf das Grau und Schwarz von Tusche und Graphit beschränkt sowie auf die verschiedenen Weißnuancen des Papiers oder auf ein kräftiges Rot oder Orange, das auch die Installation im Museum DKM bestimmt und das sie besonders schätzt, da es keinerlei Naturassoziationen weckt.

Arbeiten wie spatien gehen künstlerische Strategien voraus, die die noch Mimetisches enthaltende zeichnerische Linie zur autarken Linie führen, bis diese sich schließlich jeder definitorischen Funktion verweigert und von der Künstlerin dirigiert den Raum erobert. In ihren Découpagen (von französisch découper für ausschneiden) umfährt Katharina Hinsberg die gezeichnete Linie mit dem Skalpell, löst diese aus dem Papier heraus und hängt sie als fragiles Gebilde mit einer Nadel fixiert frei vor die Wand. Wie sehr diese mit chirurgischer Präzision dem Zeichengrund entrungenen Notationen ihrem Ursprung nach von Natureindrücken abhängen, deren Einzelheiten vor dem Objekt oder frei aus der Erinnerung mit dem Zeichenstift festgehalten werden, belegen ihre Schriften, in denen von Blättern, Früchten oder Mohn die Rede ist oder von «Holunderperlen mit ihren kleinen Augenspiegeln von Herbsthimmeln».3 Nicht auf die Gesamtheit der Landschaft richtet sich der Blick; der Singularität und Schönheit der Formen sowie der Kontur des einzelnen Gebildes gilt die Aufmerksamkeit der Künstlerin.4 Das entdeckte Detail wird als formaler Gedanke weiterverfolgt, verselbständigt sich und führt zu neuen Zeichnungen und Formen.

Auf das Zeichnen und Schneiden folgt das Verteilen und Ausbreiten auf der Fläche, wenn Katharina Hinsberg Hunderte von Découpagen aneinanderreiht, bis eine gleichmäßige Struktur feiner insektenartiger Zeichen eine Wandfläche bedeckt. Auch hier vollzieht sich die Vollendung des Werks in Abhängigkeit vom konkreten Raum, in welchem die Arbeit installiert wird, und erst im Wechselspiel mit diesem wird die Linie zum plastischen Gebilde.

Wie schon bei den Découpagen stellen Schneiden und Aufhängen bei der Installation spatien das Grundprinzip dar. Sie sind Vorbedingungen der freien Linie im Raum. Während Erstere jedoch noch auf das Nachbild eines realen Eindrucks zurückgeführt werden können, besitzt der zeichnende und nachvollziehende Strich für Letztere keine Relevanz mehr. Die Linie selbst ist Material geworden, befreit von allen Funktionen, die sie nach traditionellen Maßstäben zu erfüllen hat, sei es die Umrisse eines realen Gegenstands abzubilden, sei es einer spontanen Idee skizzierend Ausdruck zu verleihen oder als Bildzeichen eine semantische Bedeutung zu transportieren.5 Durch den maschinellen Schnitt wird der Linie jegliche künstlerische Subjektivität entzogen. Objektive Bedingungen wie die Grundfläche und Höhe eines Raums bestimmen über Quantität und Länge des verwendeten Linienmaterials. Das Interesse richtet sich auf die «Transformation einer Fläche per Schnitt in ein räumliches Gebilde».6 Im Moment der Installation beginnen zugrunde gelegtes Konzept und Intuition jedoch ineinander zu greifen. Erst vor Ort entscheidet die Künstlerin, wie die Linien im Raum gezogen werden und wann die Arbeit beendet ist. Mit der Hängung und Verteilung im Raum nähert sich die Linie wieder der Zeichnung an, indem sie auktoriale Qualität zurückerlangt.7

In der Wahrnehmung des Betrachters treten die objektiv sachlichen Verfahren, die der Installation zugrunde liegen, schließlich gänzlich in den Hintergrund. Der Schwerkraft überlassen, fällt die fragile Lineatur zu Boden, sie gerät in Bewegung, entfaltet Eigenleben und löst in ihrer empfindlichen Vergänglichkeit vielfältige Assoziationen aus. Obwohl der Werkprozess auf einem im Vorhinein festgelegten und auf sachlichen Parametern beruhenden Konzept basiert und die Linie als autarkes bildnerisches Material behandelt wird, setzt die vollendete Installation naturanaloge Vorstellungen in Gang und appelliert mit ihren tänzerisch sanften Bewegungen an die Subjektivität des Betrachters.

Die künstlerischen Strategien Katharina Hinsbergs sind im Allgemeinen einer strengen Regelmäßigkeit unterworfen, Repetition und Monotonie kennzeichnen ihre Arbeitsabläufe: „Mein Zeichnen folgt weniger Impuls, Äußerung und Ausdruck, als Regelmaß und Pensum.“8 Ihre Arbeitsprozesse verlangen Disziplin und Präzision, und sie erfordern vor allem Zeit. Das Resultat ist jedoch kein vollendetes Werk im herkömmlichen Sinn, das als abgeschlossene Einheit in unterschiedlichen Kontexten Bestand hat. Katharina Hinsbergs Installationen sind transitorisch, und sie sind konsequent ortsbezogen, indem ein zugrunde gelegtes Konzept zwar durchaus mehrfach angewendet werden kann, bei jeder Umsetzung aber auf die konkreten Bedingungen des Raums reagiert.

Für die Installation X x A4 in der Hamburger Kunsthalle (2010), die zuvor bereits im Kunstverein Wilhelmshöhe Ettlingen realisiert worden war, schnitt die Künstlerin rotoranges Papier im Format DIN A4 in zusammenhängende Streifen und befestigte diese gleichmäßig an der Decke des Ausstellungsraums, sodass ein zweiter umgehbarer Farbraum entstand. Das Bodenmaß der Installation und das Flächenmaß des verwendeten Papiers stehen auch hier in einem Entsprechungsverhältnis. Wie bei der Arbeit spatien schaffen die von der Decke herabfallenden Linien eine Art farbige Schraffur, die sich in den Raum erstreckt.9 Hier wie dort gelingt es der Künstlerin, durch die Technik des Schnitts mit der Zeichnung die dritte Dimension zu erschließen. Die Linie wird, paradox genug, zum plastischen Material, mit dem sie nach dem Prinzip des All Over durch Ausdehnung und Wiederholung durchlässige Farbkörper entstehen lässt.

Der Titel der Installation, spatien (von lateinisch spatium) unterstreicht mit seinen diversen Implikationen die von Katharina Hinsberg erzielte Vermengung des zeichnerischen Mediums mit Malerei und Skulptur. Er benennt die räumliche Ausdehnung der Installation ebenso wie die Intervalle, die zwischen den herabfallenden Lineaturen entstehen, umfasst mit seinem Bedeutungsrahmen aber auch den Zeitraum und damit jene Dimension, die Katharina Hinsberg der Flüchtigkeit des zeichnerischen Strichs entgegensetzt: „Im Gegensatz zur Flüchtigkeit des Zeichnens vollzieht sich das Ausschneiden lang-wierig, in einer weit ausgedehnteren Dauer und Geduld, mit einer fast schon chirurgischen Konzentration.“10

Zeichnen und Schreiben sind einander eng verwandt, und so scheint es nur konsequent, dass Katharina Hinsberg ihr künstlerisches Schaffen in begleitenden Texten reflektiert, die ihre rational analytischen Vorgehensweisen erläutern und zugleich um poetische Sprach-Bilder erweitern. Auch das Medium Sprache behandelt sie mit höchster Akkuratesse, in der bildenden Kunst wie im Text legt sie dem lyrischen Vokabular eine präzise Grammatik zugrunde. Zeichnung ist per se Analyse, da sie Raum und Volumina mit den Mitteln von Linie und Schraffur übersetzen muss, während sie zugleich als der unmittelbarste Niederschlag der formgebenden Idee wie der künstlerischen Subjektivität gilt. Souverän vermag Katharina Hinsberg mit ihren Arbeiten zwischen diesen beiden Polen des Zeichnerischen zu vermitteln zwischen Präzision und Beiläufigkeit, Ratio und Intuition, Konzept und Vieldeutigkeit.

Heike Baare

 

1 Katharina Hinsberg, Felder zeichnen, Neuss 2005, S. 11.
2 Katharina Hinsberg, Die Annahmen der Linie, Stuttgart 2007, S. 10.
3 Ebd., S. 8.
4 Ruth Diehl, Katharina Hinsberg. Zeichnung heute II, Ausst.-Kat. Bonn 1999, S. 10.
5 Johannes Meinhardt, Eine unabweisbare Verführung. Materialität und Kontingenz der Linie, in: Katharina Hinsberg. Binnen, Ausst.-Kat. Linz und Karlsruhe 2008, S. 154.
6 Katharina Hinsberg, zit. nach Henrike Mund, Katharina Hinsberg, in: Cut. Scherenschnitte. 20 aktuelle Positionen, Ausst.-Kat. Hamburg und Klagenfurt 2010 – 2011, S. 38.
7 Ebd., S. 155.
8 Zit. nach Diehl a.a.O., S. 8.
9 Mund a.a.O., S. 38
10 Katharina Hinsberg, Die Annahmen der Linie, Stuttgart 2007, S. 10.