Verwandtschaft
04.06.2000 – 31.08.2000
Verwandtschaft
Die Auseinandersetzung mit dem Raum – ein in der Kunstgeschichte zentrales Thema, das in den drei Gattungen jeweils unterschiedlich umgesetzt wird. Die Aufgabe der Architektur ist die Gestaltung des Raumes, in der Plastik geht es um den Bezug zum Raum und in der Malerei entsteht auf der Leinwand ein illusionistischer Raum (1).
Die Brüder Maik und Dirk Löbbert verfolgen jedoch einen vollkommen anderen, ungewohnten Ansatz: In ihren Arbeiten wird der reale, bereits existierende Raum zum unmittelbaren Objekt. Nicht mehr die Nachahmung der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selber steht im Mittelpunkt – es entstehen keine autonomen Skulpturen, sondern ortspezifische Arbeiten. Seit 16 Jahren arbeiten die Brüder Löbbert im öffentlichen Raum, irritieren die Sehgewohnheiten der Passanten mit ihren «subversiven Interventionen» (2). Durch minimale Veränderungen in, an oder auf den Ausstellungsorten wird bereits Existentes in besonderer Weise ins Bewusstsein gerückt – das Ergebnis einer nicht nur formalen, sondern auch inhaltlichen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation. Der Ausstellungsort mit all seinen historischen, sozialen, gesellschaftlichen und ästhetischen Ebenen wird zum integrativen Bestandteil der Arbeit.
Duisburg im Juni 2000: Auf dem Boden der Schaufenstergalerie der Stiftung DKM liegt ein geometrischer Körper – grün, asymmetrisch, hohl. Ein Gefäß? Eine Hülle? Der übrige Ausstellungsraum ist leer, kein weiteres Objekt ist zu sehen. Erst der zweite Teil der Arbeit, der sich außerhalb des Kunstraumes befindet, gibt die entscheidenden Hinweise: Auf dem Dach des Gebäudes steht die gleiche Form – diesmal jedoch in Rot. Der Ort und die veränderte Stellung verraten, dass es sich bei dem Objekt um den Schornstein handelt, der sich hier in seinen gewohnten Kontext, an seinen «Platz» befindet. Eine Hülle «verkleidet» den Schornstein, der durch dieses Betonen der Form zu einem geometrischen Körper wird. Dort, wo der Schornstein seine Funktion erfüllt, aktiv ist, leuchtet die Hülle von weitem sichtbar in Rot, während sie im Galerieraum, komplementär dazu, «arbeitslos» auf dem Boden liegt – in Grün.
Verwandtschaft – so lautet der Titel der Arbeit. Verwandtschaft zwischen den beiden Teilen der Arbeit, zwischen den beiden Künstlerbrüdern, aber auch zwischen den Brüdern Löbbert und dem Bildhauer Ernst Hermanns, dessen Archiv sich im 1. Stockwerk des Gebäudes befindet – ein Bezug, der für die Arbeit Verwandtschaft von zentraler Bedeutung ist. Verbindungen herstellen, Spannung aufbauen, den Raum neu definieren, die Wahrnehmung verändern – es ist die Auffassung von Raum und Skulptur, die die Brüder Löbbert mit Ernst Hermanns teilen. „Wenn mehrere Einzelformen in Bezug zueinander treten,“ so Ernst Hermanns, „entsteht eine Raumspannung von Körper zu Körper. Der Raum wird als verbindender Teil der Körper einbezogen und erhält eine neue Bedeutung“(3). Die Entwicklung des Werkumraumes zum werkimmanenten Raum, das Interesse am Objekt im Raum, das Erstellen spezieller Raumsituationen – zwischen den Brüdern Löbbert und Ernst Hermanns existiert eine «Blutsverwandtschaft».
Nicht nur der 1. Stock des Gebäudes, sondern auch der ebenerdige Ausstellungsraum selbst, die Schaufenstergalerie, wird in der Arbeit von Maik und Dirk Löbbert thematisiert. Eine Seite der Galerie besteht aus vier großen Fenstern, so dass die Kunst Tag und Nacht betrachtet werden kann – unabhängig von Öffnungszeiten. Die Idee des Schaufensters wird von Maik und Dirk Löbbert aufgegriffen: in großen Buchstaben stehen ihre Namen und der Titel der Ausstellung auf einer der Fensterscheiben. Das Modell Schornstein liegt im Schaufenster: Kunst oder Ware? Diese Präsentationsform, die den Ort und die Ansicht auf die Kunst festlegt, wird von den Brüdern Löbbert jedoch unterwandert. Der Außenraum, das gesamte Gebäude wird zum Bestandteil der Arbeit – der Schornstein, ein alltäglicher Gegenstand, wird zur Skulptur. Die Verbindung von Innen und Außen, die Verknüpfung von Kunst und Alltag, das Hinterfragen der Präsentationsform von Kunst, das Reflektieren über den Skulpturbegriff – bei Maik und Dirk Löbbert findet die Auseinandersetzung mit dem Thema «Raum» auf vielen verschiedenen Ebenen statt.
Verwandtschaft enthält jedoch noch einen weiteren, bisher nicht erwähnten Aspekt.
Nicht nur auf den Ausstellungsraum und das Gebäude beziehen sich die Brüder Löbbert, sondern auch auf das Gelände sowie die gesamte Region. Die Galerie befindet sich im Garten der Erinnerungen – so heißt der Teil des ehemaligen Duisburger Umschlaghafens, wo von dem Künstler Dani Karavan in dem von ihm gestalteten Altstadtpark Bruchstücke alter Hafenbauten konserviert wurden. Erinnerung ist auch ein Thema bei Maik und Dirk Löbbert – Erinnerung an ihre Kindheit, die sie im Ruhrgebiet verbrachten, wo die unzähligen Schornsteine überall ununterbrochen rauchten. Ein Bild, das untrennbar mit dem vom Bergbau und der Industrie geprägten Ruhrgebiet verbunden ist. Auch heute noch gibt es diese Schornsteine, doch produzieren viele mittlerweile keinen Rauch mehr, sind somit funktionslos. Als «leere Hüllen», «geometrische Körper» erinnern sie an vergangene Zeiten – Grün statt Rot.
„Nicht nur sichtbar zu machen, ist die Intention der Brüder Löbbert“, schreibt Detlef Bluemler, „sondern auch sehend“(4). Die Wahrnehmung zu sensibilisieren, das Bewusstsein zu schärfen für die Umwelt, das Alltägliche, das Unbeachtete – durch die ortspezifischen Arbeiten von Maik und Dirk Löbbert wird beim Betrachter nicht nur ein ästhetisches Erlebnis, sondern auch ein erkenntnisstiftender Prozess ausgelöst, der eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit ermöglicht.
Anne Schloen
(1) Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen, Köln 1963, S. 11
(2) Ein von Günter Metken geprägter Begriff.
(3) Zitiert nach: Ernst Hermanns. Plastische Arbeiten mit Werksverzeichnis 1946-1982, hrsg. v. Galerie am Promenadenplatz Heinz Herzer, München und Institut für moderne Kunst, Nürnberg, Zirndorf 1982, S. 206
(4) Dr. Detlef Bluemler, Die Wahrnehmung des Besonderen im Alltäglichen, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1998, Ausgabe 43, Heft 22, S. 3